Stimmen

In einer Zeit, die von einer schier unüberschaubaren Menge an Publikationen zu spezifischen Trainingstechniken und taktischen Finessen der einzelnen Kampfkunst- und Kampfsportdisziplinen geprägt ist, wagt diese Sammlung von Aufsätzen einen bewusst anderen, ja, ich möchte sagen, „innovativen Weg“: Sie rückt die oft vernachlässigten, aber umso bedeutsameren, vielfältigen Aspekte der Kampfkünste in den Mittelpunkt – ihre tiefgreifenden Verbindungen zum Menschen und zur Gesellschaft.

Wie Chief Instructor Jan Torborg in seinem Grußwort zu »Kempo Arnis« treffend bemerkt, haftet den Kampfkünsten etwas Mystisches an, doch in unserer sich schnell verändernden Welt droht der Blick nach innen zu verschwimmen. Diese Aufsatzsammlung möchte dazu beitragen, „Licht in diesen Mythos zu bringen“, indem sie hinter die Kulissen schaut und die Kampfkünste in all ihren Ebenen beleuchtet: von der Philosophie und Geschichte, über ihre Wertvorstellungen und Psychologie bis hin zur wissenschaftlichen Überprüfung ihrer Effektivitätsannahmen. Großmeister Sifu Björn Lindhorst betont in seinem Grußwort zu »Shaolin-Kempo«, dass die Beantwortung zahlreicher Fragen zur Herkunft und Philosophie der Kampfkünste nicht nur interessant, sondern auch wichtig für ihre Zukunft ist. Dieses Buch versteht sich demnach als ein offener, neugieriger und lehrreicher Beitrag zu dieser Auseinandersetzung, der nicht »die eine Wahrheit« verkauft, sondern vielmehr zum eigenen Denken und Forschen anregen möchte.

Der ganzheitliche Blick, der bereits im Titel anklingt, ist das „Leitmotiv“ dieser Sammlung. Der Autor, Urs-Vito Albrecht, beleuchtet viele Bereiche der Kampfkünste und macht dem*der Leser*in rasch bewusst, dass es hier noch unendlich viel mehr zu entdecken gibt. Diese Perspektive ist in der Tat unkonventionell, da sie die Kampfkünste nicht primär als Mittel zur Selbstverteidigung oder zum sportlichen Wettkampf betrachtet, sondern als ein „facettenreiches Kulturgut“, das aufs Engste mit Geschichte, Philosophie, Geographie, Soziologie und Psychologie verbunden ist.

Ein zentrales Thema, das sich durch viele der Aufsätze zieht, ist die Gerade diese Betonung der „erzieherischen und formenden Kraft der Kampfkünste“ weckt Assoziationen zu den philosophischen Überlegungen Immanuel Kants, insbesondere zu seinen Ausführungen in der Vorlesung über Pädagogik (1803) über die Disziplinierung, Kultivierung und Moralisierung des Menschen als pädagogische Erziehungsziele. Kant argumentierte, dass der Mensch, um ein vernünftiges und moralisches Wesen zu werden, einer sorgfältigen Erziehung bedarf, die seine animalischen Neigungen zügelt (Disziplinierung), seine Fähigkeiten und Talente entwickelt (Kultivierung) und ihn zur Achtung des gesellschaftlichen Umgangs miteinander (Moralisierung) führt. Dies alles dient der „Bezähmung der Wildheit des Menschen“.

Kann die Praxis der Kampfkunst tatsächlich einen Beitrag zu diesen von Kant formulierten Erziehungszielen leisten? Diese Frage zieht sich wie ein roter Faden durch die verschiedenen Essays dieser Sammlung.

Betrachten wir zunächst den Aspekt der Disziplinierung. Die Kampfkünste sind von Regeln und Prinzipien durchdrungen. Meister legen diese fest, um ein klares Verständnis ihrer Kunst zu vermitteln und den Übenden eine Orientierung zu geben. Verhaltenskodizes, wie die „fünf Regeln“ im Judo oder das „Dojo-Kun“ im Karatedo , umrahmen den geistigen Bereich der Kampfkünste und geben moralische Leitlinien vor. Die Einhaltung von Etikette (Reiho) und der Respekt gegenüber dem Meister und den Trainingspartnern sind essenzielle Bestandteile des Trainings. Das wiederholte Üben von Techniken, selbst der stilisierten Formen (Kata), erfordert Ausdauer, Beharrlichkeit und die Unterordnung unter die Lehrmethoden. Der disziplinierte Umgang mit dem eigenen Körper, die Überwindung von Anstrengung und Schmerz sowie die Verpflichtung gegenüber der Kampfkunst selbst und ihren Prinzipien sind Praktiken, die zweifellos zur Selbstdisziplin beitragen, einer Kernkomponente von Kants Disziplinierungsbegriff.

In Bezug auf die Kultivierung bietet die Kampfkunstpraxis vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung von Fähigkeiten und Talenten. Neben der offensichtlichen körperlichen Ertüchtigung, die Kraft, Ausdauer, Flexibilität und Koordination schult, fördert das Training auch kognitive Fähigkeiten wie Konzentration, Reaktionsschnelligkeit und strategisches Denken. Jigoro Kano, der Begründer des Judo, legte Wert auf Analyse und Verständnis statt auf bloße Nachahmung. Die Auseinandersetzung mit verschiedenen Kampfkunststilen und ihren Philosophien kann den Horizont erweitern und zu einem tieferen Verständnis unterschiedlicher Denkweisen führen. Die Betonung der Kommunikation für das Lernen und die Entwicklung von Unterrichtsstrukturen innerhalb der Kampfkünste zeigen das Potenzial zur pädagogischen Kultivierung.

Der dritte Aspekt, die Moralisierung, findet in der Philosophie der Kampfkünste einen besonders fruchtbaren Boden. Viele traditionelle Kampfkünste wollen als Lebensstil mit einem philosophischen und esoterischen Anspruch verstanden werden. Die „Drei Wege“ des Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus haben zahlreiche Kampfkünste in Asien tiefgreifend beeinflusst. Konzepte wie der „Weg“ (Do) implizieren beispielsweise eine lebenslange Reise der Vervollkommnung, die weit über den rein physischen Kampf hinausgeht. Die Beiträge der traditionellen japanischen Kampfkünste zur moralischen Entwicklung werden in dieser Sammlung ausführlich erörtert. Meister wie Kano, Funakoshi und Ueshiba verbanden ihre Künste stark mit philosophischen Sichtweisen der Selbstentwicklung, Selbstverwirklichung und Selbstkultivierung.

Besonders aufschlussreich in diesem Kontext sind die Ausführungen über die Bewältigungsstrategien für Gewalt. Sixt Wetzler argumentiert, dass Kampfkünste eine Antwort auf die Angst des Einzelnen vor Gewalt und seine Unfähigkeit, damit umzugehen, versprechen. Strategien wie die der Ästhetisierung (z. B. durch Kata), Ritualisierung (z. B. durch Regeln im Kampfsport) und die narrative Strategie (Verwandlung von Gewalt in etwas Sinnvolles und Positives wie im Judo und Kyudo) zeigen, wie Kampfkünste ethische und moralische Werte vermitteln können. J. Kingston Cowart sieht in der Selbstveränderung durch das Verständnis philosophischer, psychologischer und spiritueller Prinzipien einen zentralen Aspekt der Kampfkünste. Er betont die Auswirkung auf die Veränderung des Sozialverhaltens und spricht spirituelle Aspekte an, die dieses Ziel unterstützen. Die Idee, durch das Üben der Kunst „das Richtige zu tun, auf die richtige Art und Weise, zur richtigen Zeit, aus dem richtigen Grund“ zu lernen, korrespondiert auf bemerkenswerte Weise mit Kants Vorstellung von „pflichtgemäßem Handeln aus innerer Überzeugung“.

Es ist jedoch wichtig anzumerken, dass, wie in der Diskussion über die moralische Entwicklung in »realen« Kampfsportarten gezeigt wird, nicht alle modernen Entwicklungen in den Kampfkünsten denselben Fokus auf moralische Werte legen. Medieneinflüsse und die Verlagerung hin zu Wettkampf und Realitätsnähe können die traditionellen philosophischen Aspekte in den Hintergrund drängen. Dennoch argumentiert Henry Martyn Lloyd (Abschnitt II, Kapitel 3), dass selbst die modernsten und hyperrealen Kampfkünste immer noch Formen der spirituellen Askese darstellen können. Und selbst im Umfeld der Mixed Martial Arts (MMA) lassen sich Beispiele von Kämpfern finden, die traditionelle Werte wie Respekt verkörpern.

Die Globalisierung der Kampfkünste führt zu Anpassungen an unterschiedliche kulturelle Kontexte. Während in Japan Budo als ethische Schule eine lange Tradition hat, werden im Westen oft wettkampforientierte Aspekte stärker betont. Dennoch zeigt das Beispiel des jungen MMA-Schülers, der seine Kinder lieber zuerst Judo oder Karate lernen lassen würde, um Respekt und Umgangsformen zu erlernen, dass die traditionellen Werte nach wie vor als relevant und wertvoll angesehen werden.

Diese Aufsatzsammlung bietet somit eine fundierte und differenzierte Auseinandersetzung mit den vielfältigen Dimensionen der Kampfkünste. Sie zeigt auf, wie die körperliche Praxis auf einzigartige Weise mit philosophischen, psychologischen und sozialen Aspekten verwoben ist und somit ein potenziell wertvolles Instrument zur Disziplinierung, Kultivierung und – in vielen Fällen – zur Moralisierung des Menschen darstellen kann. Indem sie über rein technische Anleitungen hinausgeht und die tieferen Sinnzusammenhänge der Kampfkünste beleuchtet, leistet diese Sammlung einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Literatur und eröffnet neue Perspektiven für Praktizierende, Lehrende und alle, die sich für die ganzheitliche Bedeutung der Kampfkünste interessieren.

Ich wünsche allen Leser*innen eine anregende Lektüre und hoffe, dass diese Essays dazu inspirieren, den eigenen Weg in der faszinierenden Welt der Kampfkünste mit einem erweiterten und vertieften Blick zu beschreiten.

Univ.-Prof. Dr. Reinhard Kopiez

Professor für Musikpsychologie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

2. Meistergrad Wing Chung

Shaolin-Kempo

Spricht man mit Lehrern und Meistern unterschiedlicher Stile fällt auf, dass es meist unterschiedliche Aussagen zu den Philosophien und Herkünften gibt. Wesentliche Gemeinsamkeiten finden sich lediglich in den bekanntesten Geschichten. Ein Beispiel ist die Legende des Bodhidharma, dem buddhistischen Mönch aus Indien, der als universeller Begründer der asiatischen Kampfkünste gilt. Auch das »Shaolin-Kempo« bedient sich dieses Mythos, obwohl die Kampfkunst nachweislich erst in den 1960er Jahren aus diversen Künsten heraus begründet wurde. Hinterfragt wird dieser Umstand selten.

Insgesamt habe ich das Gefühl, dass je tiefer man bei heutigen Meistern und Schwarzgurten gräbt und nachfragt, desto dünner und universeller werden die Antworten. Dabei gibt es insgesamt eine Vielzahl von Fragen, deren Beantwortung nicht nur interessant, sondern auch wichtig für die Zukunft der Kampfkünste sind.

Ist es zum Beispiel nicht ausgesprochen widersprüchlich, dass wir heutzutage an einzelnen Stilen und Formen festhalten? Oder dass wir etwas als besser oder schlechter erheben, anstatt stiloffen und dankbar zu sein, neue Dinge, neue Einblicke kennenzulernen? Liegt der Ursprung der Kampfkünste nicht im Wandel? Sollen wir unsere Künste nicht öffnen, neues Gedankengut annehmen und auch unser Können dem stetigen Wandel unterwerfen?

Diese Webseite kann bei der Beantwortung solcher Fragen – und vieler weiterer – helfen. Sie versammelt einzelne Aufsätze, die sich ganz unterschiedlichen Gedanken und Stilen widmen. Die Seite ist offen, neugierig und lehrreich, ohne dabei »die eine Wahrheit« verkaufen zu wollen. Gerade dadurch bleibt sie spannend und für jede Leserin und jeden Leser empfehlenswert.

Ob mit kampfkünstlerischem Hintergrund oder ohne – es macht Freude, sich durch die Beiträge zu klicken, Neues zu entdecken und dazuzulernen. Vielen Dank für diese Sammlung und den offenen Blick in die geheimnisvolle Welt alter Künste und neuer Meister.

Ich wünsche der Website eine weite Verbreitung.

Bad Pyrmont im Juni 2024,

Björn Lindhorst

Shaolin-Kempo (www.shaolin-kempo-badpyrmont.de) stammt aus den Niederlanden und wurde 1964 in Arnheim begründet. Es ist ein eigenständiges System, dessen Ursprünge aus diversen chinesischen und japanischen Kampfkünsten hervorgegangen sind. Größte Einflüsse kommen aus dem Goju ryu, Pencak Silat und Kuntao. Es gibt viele Tritt- und Schlagformen, Hebel und auch Formläufe

Björn Lindhorst

Großmeister Sifu

GM Björn Lindhorst betreibt seit seiner Jugend Kampfkünste. Über Judo, Jiu-Jutsu und Karate fand er seinen Stil Ende der 90er-Jahre im Shaolin-Kempo. Mittlerweile trägt er den 6. DAN und auch in den Stilen Kyusho-Jitsu und Kiaido ist er DAN-Träger. Er unterrichtet sowohl im Verein als auch als Gastdozent in diversen Kursen, Zentraltrainings und Selbstverteidigungskursen. Daneben hat er als Mitautor den Stil Shaolin-Kempo in einem separat erhältlichen Buch ausführlich beschrieben.

Kempo Arnis

Kampfkünste haben etwas Mystisches an sich, und viele Menschen zollen einem Schwarzgurt schon mal Respekt. Was hat es eigentlich mit dem Mythos auf sich?

In einer sich immer rascher verändernden Welt, in der es immer mehr zählt, wie man nach außen scheint, verschwimmt der Blick nach innen zunehmend. „Wie man etwas sieht, so ist es auch“. So zumindest, scheinen viele ihr Weltbild zu malen. Die Bereitschaft, über seinen Tellerrand zu schauen, ist zum Teil unkomfortabel und kostet Energie.

Vielleicht wird der Mythos Kampfkunst umso größer, je mehr die Bereitschaft sinkt, diese Energie aufzubringen. Hinter die Kulissen schauen, sich reinknien, Informationen wertfrei aufnehmen, drüber sinnieren: Das alles praktiziert ein wahrer Kampfkünstler im besten Fall viele Jahre ununterbrochen. Für viele ein nicht erreichbares Ziel.

Für noch weniger kommt es in Frage, eine Kampfkunst zu betreiben UND dazu die anderen, damit verbundenen Ebenen zu betrachten: Philosophie, Geschichte, Werte, Psychologie, Wissenschaft, Motivation und vieles mehr.

Mit dieser Webseite wird eine wahrhaft meisterliche Zusammenstellung geschaffen, in der die Kampfkünste auf besondere Art und Weise beleuchtet. Mit wissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit werden Einblicke in eine Welt ermöglicht, die für viele noch unerschlossen ist. Die Beiträge sind allen Leserinnen und Lesern zu empfehlen, die sich in kurzer Zeit ein eigenes Bild über Kampfkunst und angrenzende Bereiche verschaffen möchten. Nicht jeder ist bereit, so viele Bücher zu studieren, wie der Autor – und genau hier liegt der Wert dieser Sammlung. Sie spart Energie und öffnet zugleich neue Horizonte.

Ich wünsche allen Besucherinnen und Besuchern viel Freude mit diesem Schatz und bin selbst sehr dankbar für diese großartige Arbeit. Möge die Webseite viele Menschen erreichen und Licht in den Mythos der Kampfkünste bringen.

Seelze im Januar 2025,

Jan Torborg

Kempo Arnis (www.kempo-arnis.de) gibt es seit Ende der Neunziger und es kommt aus Slowenien. Es kombiniert traditionelle Kampfkunst wie Karate mit moderner Selbstverteidigung. Das Training ist schnell, direkt und höchst effektiv. Kernelemente sind Ryukyu Kempo Karate, KAPAP- Krav Maga und Modern Arnis. In Deutschland wird Kempo Arnis unter der Leitung von Jan Torborg seit 2017 angeboten.

Jan Torborg

Chief Instructor Kempo Arnis Germany

Jan Torborg trainiert seit 1989 Kampfkünste. Der Ingenieur und Familienvater beschäftigt sich dabei intensiv mit realistischer Selbstverteidigung. Neben dem Goju Ryu Karate widmet er sich Kyusho Jitsu, um sein Wissen über die vitalen Punkte und deren Stimulation zu erweitern. Ergänzend hat Torborg seinen persönlichen Kampfkunst-Rahmen mit Kempo Arnis vervollständigt. Seit 2021 trägt er den 6. Dan im Goju Ryu Karate, seit 2023 den 3. Dan im Kyusho Jitsu und den 2. Dan im Kempo Arnis.