Zwischen Budo und Brutalität: Moralische Konzepte in realitätsbezogenen Kampfsystemen
In diesem Aufsatz wird der Wandel der Kampfkünste von traditionellen, moralisch geprägten Systemen hin zu modernen, realitätsorientierten Stilen analysiert. Die klassischen japanischen Kampfkünste wie Judo, Karate und Aikido basieren auf ethischen Prinzipien wie Selbstdisziplin, Respekt und innerer Entwicklung. Moderne Stile wie Keysi oder MMA stellen Effektivität, Selbstschutz und Realität in den Vordergrund. Besonders die Medien – von Hollywood bis Social Media – beeinflussen die Wahrnehmung und Popularität neuer Kampfformen massiv. Der Text beleuchtet auch philosophische Fragen rund um das Selbstbild des Kämpfers und die Rolle von Moral in kämpferischen Kontexten. Es wird diskutiert, ob moderne Systeme gänzlich auf Philosophie verzichten oder diese lediglich neu interpretieren.Begriffe wie „Realität“ und „Hyperrealität“ werden dabei kritisch hinterfragt. Traditionelle Tugenden wie Etikette, Meditation und Vorbildfunktion des Meisters werden modernen Konzepten gegenübergestellt. Der Aufsatz stellt dar, wie kulturelle Kontexte und historische Entwicklungen den Charakter von Kampfkünsten formen. Abschließend wird ein Ausblick gegeben, wie sich ethische und funktionale Aspekte künftig versöhnen lassen könnten.
Autor*in: Albrecht Urs-Vito
Jahr: 2025
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Lizenz: CC BY-ND 4.0
Mijatov stellte fest, dass »jede Kampfkunst sich dort entwickelt hat, wo die Kultur, in der die Kunst praktiziert wurde, ihre Entwicklung und Ausformung beeinflusst hat«. Medien sind ein starker kultureller Agent. Klassische Medien wie das Kino, das Fernsehen, das Video und die »Neuen Medien« wie Youtube, X (ehemals Twitter) und Facebook haben einen enormen Einfluss auf den Wandel und die Entwicklung der Kampfkünste. Nach Bowman ist seit dem »Kung-Fu-Craze« in den 1970er und 1980er Jahren der starke Einfluss der Medien und ihre Rolle als Vektor für jede Kampfkunst bekannt. Die Kampfkunstlandschaft in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts weist so viele verschiedene Stile auf, dass es fast unmöglich ist, den Überblick über die jüngsten Entwicklungen zu behalten. Manche mögen argumentieren, dass einige aggressivere und brutalere Stile Indikatoren für einen Dezivilisierungsprozess sind. Ein sehr gutes Beispiel für eine mediengesteuerte Entwicklung eines Kampfkunststils ist die Keysi Fighting Method (KFM) von Dieguez und Norman1. Keysi wurde sowohl in der Filmchoreografie für »Batman Begins« im Jahr 2005 als auch in den DVD-Extras gezeigt. Der »raue, rohe und brutale« Stil wurde für ein breiteres Publikum sichtbar und ein großer Erfolg. Die Lehrmethode verlagerte sich vom Training durch Präsenzunterricht hin zu meist multimedialem Blended Learning durch Internetkurse. KFM trägt in der Kampfkunstbewegung zu mehr »Realität« und »Street Credibility« bei. Keysi ist mit dieser Botschaft nicht allein: Auch das israelische Krav Maga und das slowenische Kempo Arnis vermitteln ein Bild von einer effizienten, radikalen und straßennahen Kampfrealität. Ein anderes Beispiel für mediengesteuerte Entwicklungen sind die Mixed Martial Arts (MMA). Anfang der 1990er Jahre wurde die Sehnsucht der Menschen nach der Realität des Kampfes durch die Einrichtung der Ultimate Fighting Championship (UFC) gestillt, die in den USA echte Kämpfe (weniger reguliert, damit brutaler) ausstrahlte. Durch die UFC entwickelte sich dieser Kampfsport nach Anpassungen des Regelwerks zu den weltweit beliebten Mixed Martial Arts. Schulen für MMA und eng damit verbundene Stile wie Brazilian Jujutsu und Luta Livre konkurrieren mit traditionelleren Judo-, Karate- und Aikido-Schulen2. Auch die traditionellen japanischen Kampfkünste sind ein integraler Bestandteil von MMA, auch wenn ihre moralischen Aspekte bei den Übertragungen weitestgehend unberücksichtigt bleiben. Es scheint offensichtlich zu sein, dass die in den Batman-Filmen gezeigten Keysi-Praktiken, wie MMA-Veranstaltungen, nichts mit den moralischen Überzeugungen und dem Denken der alten Meister des Judos, Karatedo und Aikido zu tun haben. In diesem Aufsatz wird untersucht, ob es in den neueren »realitätsbezogenen« Systemen im Vergleich zu den traditionellen japanischen Kampfkünsten tatsächlich keine Spuren von moralischen Werten und Philosophien gibt. Darüber hinaus wird analysiert, ob es einen Wandel im ethischen Denken und in der allgemeinen Einstellung der Bevölkerung und der Praktizierenden gegenüber den Kampfkünsten gibt, der mit der beschriebenen Entwicklung hin zur »Realität« zusammenhängt. Im Anschluss an diese Einleitung werden den Lesenden Einblicke in den historischen Hintergrund und die Begründung für die moralische Entwicklung in den Kampfkünsten gegeben. Im dritten Abschnitt geht es darum, die Beiträge der angesprochenen Kampfkünste zu veranschaulichen. Im vierten Abschnitt wird die Brücke zu den »realitätsbasierten« Kampfkünsten geschlagen, indem der Realitätsbegriff in den Kampfkünsten erläutert wird. Im fünften Abschnitt wird ein Beispiel für diese Sichtweise gegeben, indem der Keysi-Stil (Selbstverteidigung) beschrieben und die Philosophie des Keysi für die spätere Diskussion zusammengefasst wird. Der sechste Abschnitt legt den Grundstein für die Analyse der Hyperrealität von MMA in Kapitel sieben, indem es den zugrunde liegenden Aspekt der »Hyperrealität« in der Kampfkunst erklärt. Die Punkte aus den Abschnitten zwei bis sieben werden in Kapitel acht diskutiert.
Der historische Kontext für die ethische Entwicklung in den japanischen Kampfkünsten
Die chinesischen Kampfkünste gelangten wahrscheinlich über Handelsrouten nach Japan und legten mutmaßlich den Grundstein für die Entwicklung der dortigen Kampfkünste. Auf japanischem Boden entwickelten die japanischen Kampfkünste bald ihren eigenen Charakter. Die japanischen Kampfkünste wurden für das Schlachtfeld entwickelt und angepasst und waren weit entfernt von einer wohlwollenden oder barmherzigen Ethik. Jujutsu, die waffenlose Kampfkunst der japanischen Kriegerkaste (Samurai), war so effizient wie tödlich, gemäß dem Schlüsselprinzip, Techniken mit dem Tod des Gegners zu beenden. Der ethische Kodex der Samurai war der Bushido, ein Regelwerk, das die Grundlage für die Gewährleistung der öffentlichen Ordnung und des Friedens bildete und damit auch die Sicherheit der gesamten Gesellschaft sicherstellte. Die Kriege zwischen den zahlreichen Kriegsherren dauerten Jahrhunderte und endeten mit dem Tokugawa-Shogunat (1600-1868), als eine lange, friedliche Periode begann. Mit der Einsetzung eines Shoguns, einem Anführer der Kriegerkaste und in etwa vergleichbar mit einem europäischen Herzog, wurden Konflikte seltener. Die Samurai wandten sich vom Kampf ab und der Suche nach der »Vollkommenheit der Form« zu, indem sie Kunst und Philosophie studierten. Die Samurai sahen nun den »Weg« (jpn. »do«) als bestimmend für ihre Existenz an und änderten ihre Einstellung von kämpfenden Kriegern zu Wanderern auf einer lebenslangen Reise der Vervollkommnung der Kunst. Es galt Ziele zu erreichen, die weit über einen einfachen Sieg in einfachen physischen Auseinandersetzungen hinausgehen. Die Meiji-Restauration ab 1868 brachte die Säkularisierung und Verwestlichung der Gesellschaft mit sich, was dramatische Veränderungen in der Wahrnehmung und Ausübung der Kampfkünste zur Folge hatte. Jujutsu gewann für die Samurai an Bedeutung, da das Verbot, Schwerter zu tragen, die ehemalige Kriegerkaste hart traf und sie somit ihre Lieblingskampfkunst Kenjutsu (Schwertkampf) nicht mehr ausüben durften. Es war Jigoro Kano – ein berühmter Jujutsu-Meister und bedeutender Pädagoge – der Jujutsu in Judo umwandelte. Indem er die letzten beiden Silben strich, entfernte Kano auch die Brutalität aus dieser Kampfkunst und fügte durch das »do« eine neue Perspektive der Selbstentfaltung und der gesellschaftlichen Entwicklung hinzu. Kanos Vision war, dass Schüler Judo üben sollten, nicht für den Wettkampf, sondern vorzugsweise, um fähig zu werden, diese Kunst für das Erreichen höherer Ziele im Leben einzusetzen. Kano war ein Pionier, der die zeitgenössischen Kampfkunstmeister anderer Stile stark beeinflusst hat. Das beste Beispiel dafür ist Gichin Funakoshi, der Begründer des aus Okinawa stammenden Karatedo. Der Platz reicht an dieser Stelle nicht aus, um den reichhaltigen historischen Hintergrund des Karate zu erläutern. Die früheren Formen dieses Stils haben wohl ihren Ursprung in chinesischen Kampfkünsten (vermutlich im Weiße Kranich Kung-Fu), die von chinesischen Händlern auf die Insel gebracht wurden. »Te« (die »chinesische Hand«) war eine tödliche Kampfkunstart mit explosiven und kraftvollen Schlag- und Tritttechniken. Beeinflusst von Kano entwickelte Funakoshi einen ethischen Kodex für sein (nun umbenanntes) Karatedo (»Der Weg der leeren Hand«) mit Elementen, die die Selbstentfaltung erzwingen, vor allem aber mit dem »Gebot der Kampfvermeidung als oberste Fähigkeit«. Dies war auch deshalb notwendig, weil Funakoshi anstelle von Kano gefährliche Techniken beibehielt und die Praktizierenden warnte, dass es bei der Anwendung von Karatedo um Leben und Tod ginge. Der Begründer des Aikido, Morihei Ueshiba, war radikaler in seiner Philosophie des »Weges des Friedens« und tilgte fast alle gefährlichen Aspekte der Techniken in seiner Kunst. In den frühen 1940er Jahren wandelte Ueshiba das Jujutsu fast vollständig in Techniken um, die, wenn sie korrekt ausgeführt werden, den Gegner auf keinen Fall verletzen. Ueshiba interpretierte Bushido auf eine neue Art und Weise und erklärte, dass Bushido nicht lehrt, wie man stirbt, Bushido lehrt, wie man lebt, wie man das Leben schützt und verbessert. Im nächsten Abschnitt werden einige Aspekte der traditionellen japanischen Kampfkünste, die als Instrumente für die moralische Entwicklung identifiziert werden können, genauer analysiert.
Beiträge der traditionellen japanischen Kampfkünste zur moralischen Entwicklung
Die oben beschriebenen Beispiele Judo, Karate und Aikido haben Vorbildcharakter. Sie können als erzieherische Tätigkeiten charakterisiert werden, die zum Zweck der Selbstentfaltung ausgeübt werden und den nicht-tödlichen Kampf durch den Erwerb traditioneller und/oder spezifizierter Kampftechniken nutzen. Die Motive der Selbstentwicklung, Selbstverwirklichung und Selbstkultivierung wurden von den Gründern stark mit dieser philosophischen Sichtweise der Kunst verbunden. Diese Sichtweise wird (vor allem in der westlichen Hemisphäre) weitgehend akzeptiert und übernommen, wie wissenschaftliche und quasi-wissenschaftliche Veröffentlichungen über Kampfkünste zeigen. Eine zeitgenössische, prägnante Analyse des Potenzials zur Selbstveränderung durch das Praktizieren von Kampfkünsten bietet J. Kingston Cowart mit seiner Abhandlung »Philosophy and Psychology of the Martial Arts«. Cowarts Arbeit folgt exakt dem philosophischen Weg von Kano, Funakoshi und Ueshiba und berücksichtigt auch wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Psychologie, Soziologie und Neurobiologie, um seine Behauptung des großen Einflusses der Kampfkünste auf die Veränderung des Sozialverhaltens zu untermauern. Marinkova et al. bieten verschiedene Strategien an, die der kulturellen Entwicklung zugeschrieben werden und die in den folgenden Abschnitten kurz beschrieben werden sollen.
Regeln und Prinzipien
Die Meister legen die Regeln und Prinzipien der Kampfkünste fest, um eine klare Erklärung ihrer Kunst zu liefern. Diese Regeln geben ein detailliertes Verständnis dafür, wie und wo eine Kampfkunst zu trainieren ist und wann die Kampfkunst nicht außerhalb der Trainingshallen angewendet werden darf. Die Regeln und Prinzipien geben den Ausübenden eine Orientierung, was vor allem zu Beginn des Studiums der Kunst hilfreich ist. Es hilft auch dabei, die Kampfkunst und ihre Ziele sowie die notwendigen Umstände und Umgebungen, in denen sie angewendet werden kann, zu verstehen. Die Regeln behandeln formale Aspekte wie Etikette, Kleidung, Trainingsraum, Sparringregeln, das Graduierungssystem sowie moralische Werte. Die wichtigsten Regeln und Grundsätze werden in den Verhaltenskodizes zusammengefasst und verdichtet.
Verhaltenskodizes
In den oben beschriebenen japanischen Kampfkünsten wurden hohe moralische Werte von den Meistern Kano, Funakoshi und Ueshiba angesprochen. Sie formulierten die Verhaltenskodizes für die einzelnen Kampfsportarten und gaben denjenigen, die ihnen folgten, eine Orientierung. Die Meister dokumentierten ihre Verhaltenskodizes in kalligraphisch gestalteten Texten. Im Judo sind dies »die fünf Regeln« und im Karatedo die »Dojo-Kun«. Die Kodifizierung schritt weiter voran, und die größeren Organisationen und Verbände dieser Kampfkünste entwickelten Regelwerke, die sich an den anfänglichen Regelwerken der genannten Meister orientierten. Ein Verhaltenskodex umrahmt den geistigen Bereich der Kampfkünste. Er gibt moralische Orientierung, ohne auf Details von Einzelfällen einzugehen. Ein Verhaltenskodex ist eher ein Leitfaden. Abweichungen von seinen Vorgaben werden im Zusammenhang mit der Person, die gegen den Verhaltenskodex verstoßen hat, abgewogen. Korrekturen und Disziplinarmaßnahmen werden entsprechend den Fähigkeiten und Fertigkeiten des jeweiligen Mitglieds der Gruppe/Schule/Vereinigung angewandt. Wenn der Verstoß gegen den Verhaltenskodex schwerwiegend genug ist, kann die Disziplinarmaßnahme als höchste Strafe den Ausschluss aus der Gruppe bedeuten.
Etikette
Besonders in den japanischen Kampfkünsten wird die Etikette hochgeschätzt. Die Einhaltung der Etikette ist ein formaler Ausdruck des Respekts gegenüber dem Meister, den Mitschülern, der Umgebung, der Kampfkunst und sich selbst. Die Etikette rahmt das Kampfkunsttraining förmlich ein, drückt den guten Willen aus und stärkt die positive Einstellung3. Eine Nichteinhaltung der Etikette hat unmittelbare Auswirkungen auf die Gruppe, und obwohl ein solches Verhalten nicht akzeptiert wird, kann es dennoch bis zu einem gewissen Grad toleriert werden. Es ist in erster Linie Aufgabe des Lehrers, einen Mangel an Umgangsformen zu beheben. Zusammen mit den anderen Schülern wird er als Korrektiv fungieren. Das regelmäßige (formale) Üben der Etikette wird dazu beitragen, Homogenität und Kontinuität in den sozialen Interaktionen untereinander herzustellen. Die Etikette muss mit dem Geist geführt werden, nicht als einfacher Automatismus. Die Etikette umfasst die rituelle Begrüßung der Trainingshalle, der früheren Meister, des Schreins, des Meisters und der Mitschüler. Sie wird beim Betreten oder Verlassen des Trainingsgeländes, zu Beginn oder am Ende des Unterrichts, des formalen Trainings und des Sparrings durchgeführt4.
Das Beispiel des Meisters
Der Meister ist die am meisten geachtete Person, da er sowohl die kämpferischen als auch die geistigen Aufgaben der Kampfkunst buchstäblich gemeistert hat. Der Meister beherrscht die Techniken der Kampfkunst und lehrt sie. Es hängt von der Einschätzung des Meisters ab, wann er was an welchen Schüler weitergibt. Er hat die Verantwortung, die Schüler individuell zu behandeln und zu fördern, wie es ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten entspricht. Der Meister vertraut seinen Schülern, so wie die Schüler den Fähigkeiten und Einschätzungen des Meisters vertrauen müssen. Daher muss dem Meister gehorcht werden und seine Urteile müssen akzeptiert werden. Der Meister dient als Vorbild für seine Schüler innerhalb und außerhalb der Trainingshallen.
Meditation
In den japanischen Kampfkünsten ist es üblich, den Unterricht mit Meditation zu beginnen und zu beenden. Sie schafft im Geist Platz für kommende Lehren und hilft so, sich auf das Training zu konzentrieren. Die (ritualisierte) Meditation ist eine Phase des achtsamen Übergangs von alltäglichen Dingen zur Kampfkunstpraxis. Das Ziel ist nicht die Fixierung auf ein Thema, eine Argumentation oder auf Emotionen. Vielmehr geht es um eine Konzentration auf das Gewahrsein von nicht mehr oder weniger als dem »Hier und Jetzt«. Übertragen auf den Alltag kann die Meditationspraxis, einmal erlernt, helfen, sich auf Aufgaben zu konzentrieren und die nötige Ruhe zu finden, um sich von störenden Einflüssen zu distanzieren. Auch die Kampfkunstpraxis selbst hat meditative Aspekte und kann als eine aktive Form der Meditation erlebt werden. Bewegungen, die durch wiederholtes Training gut im muskulären Gedächtnis verankert sind, wurden irgendwann nicht mehr auf ihre metrische Funktion hin überwacht. Vielmehr geht es darum, sich auf das zu konzentrieren, was im Zusammenhang mit der jeweiligen Bewegung auf einer Metaebene geschieht.
Kampfkunstpraxis
Es gibt mehrere Aspekte, die mit der Strategie der Kampfkunstpraxis zusammenhängen. Die Ausübung einer Kampfkunst bedeutet Engagement. Erstens ist es eine langfristige Investition in Bezug auf Zeit und Energie. Zweitens ist es eine Verpflichtung gegenüber den Trainingspartnern, d. h. mit ihnen zu lernen, sie aber nicht um des eigenen Egos willen zu verletzen. Drittens ist es eine Verpflichtung gegenüber dem Meister, indem man ihm und seinen Methoden vertraut (so wie ich meinen Sparringspartnern vertrauen muss). Viertens ist es eine Verpflichtung gegenüber der Kampfkunst selbst, um ihrer Philosophie zu folgen. Beim Training der japanischen Kampfkünste wird Empathie geübt, da das Erleben von Schmerz zu verstehen hilft, was der Gegner fühlen könnte. Auch Verantwortung wird erlernt, denn auf der Grundlage von Wissen und Können über bestimmte Techniken muss der Übende entscheiden, wann er welche Technik gegenüber dem Trainingspartner anwendet, um ihn nicht zu überfordern oder zu verletzen. Dies zu beachten ist ein Ausdruck des Respekts gegenüber anderen. Durch das Erlernen und Beherrschen einer Technik wird das Selbstvertrauen gestärkt, insbesondere wenn die Technik im Sparring erfolgreich angewendet (steigende Selbstbehauptung) und vom Meister erfolgreich geprüft wird. Mit erfolgreichen Fortschritten in einer Kampfkunst wächst auch die Selbstachtung. Insgesamt reduziert das Üben einer Kampfsportart die Angst und kann als Bewältigungsstrategie für Gewalt verstanden werden (siehe ausführlich bei Wetzler).
Das Realitätskonzept in der Kampfkunst
Es gibt eine neue Welle von Kampfsportarten, die sich an Praktizierende auf der ganzen Welt wenden. Keysi, Defence-Lab, Krav Maga, Kempo Arnis sind Stile, die sich mehr auf Selbstverteidigung und weniger (wenn überhaupt) auf die traditionellen Morallehren der japanischen Kampfkünste konzentrieren, und sie gewinnen immer mehr Anhänger. »Realität« ist ein Schlüsselwort, das im Zusammenhang mit den verwandten Kampfkünsten sehr oft betont wird. Realität ist ein Synonym für »Kampf auf der Straße« und weist auf eine andere, gewalttätigere Realität hin, als sie in den Trainingshallen und Dojos zu beobachten ist. Der Hauptunterschied zwischen Straßenkampf und Sparring besteht in der Vereinbarung, dem Gegner Gewalt anzutun. Beim Straßenkampf kommt der Wunsch zu kämpfen normalerweise nur von einer Seite und hauptsächlich aus niederen Motiven: Ego, Dominanz, eigene Unterhaltung, Gier, Eitelkeit oder Eifersucht sind einige der möglichen Motivationen. Straßenkämpfe sind zielgerichtete (und in gewissem Sinne völlig utilitaristische) Handlungen, und daher gibt es keine Regeln, an die sich gehalten werden müsste (und keinen Schiedsrichter, der den Grad der Brutalität beim Kämpfen regulieren würde). Straßenkämpfe sind nicht fair, nicht abgesprochen und finden oft »aus heiterem Himmel« statt. Das überraschende Element (jederzeit, überall, mit jeder Technik) verschafft dem Angreifer einen massiven Vorteil, um sein Ziel zu erreichen. Die »Realität« ist in diesem Zusammenhang vergleichbar mit chaotischen, kriegsähnlichen Kampfsituationen, mit maximal lebensbedrohlichen Folgen: Das Opfer stirbt, der Angreifer stirbt oder beide sterben.
Diese »Realität« erinnert stark an die gewalttätige Alltagswirklichkeit in Japan während der Bürgerkriegszeit vor dem Tokugawa-Shogunat. Als Spiegel der Gesellschaft könnte man die Forderung nach realitätsnahen Antworten als Regression interpretieren. Die Menschen fühlen sich bedroht, obwohl sie in der friedlichsten Zeit leben, die Europa je erlebt hat, was vor allem für Praktiker gilt, die in wohlhabenden Ländern wie Deutschland, Spanien und dem Vereinigten Königreich leben. Terror (in Europa) wird häufig mit Kriegen (außerhalb Europas), einer steigenden Zahl von Zusammenstößen aufgrund kultureller Missverständnisse oder mangelnder Integration, sozialen Unruhen aufgrund wirtschaftlicher Ungerechtigkeiten in der eigenen Nachbarschaft in Verbindung gebracht. Dieses kann zu einer übertriebenen Wahrnehmung von einer allgegenwärtigen (lauernden) Bedrohung führen. Unpräzise und widersprüchliche Kommunikationsstrategien von Regierungen und Medien nähren einen Teufelskreis, der in Verwirrung, Angst, Aggression und Gewalt der Bevölkerung enden kann. Diese angstbesetzte Wahrnehmung der Realität verlangt nach angemessenen und effizienten Antworten. Für spirituelle Selbstentfaltung bleibt da nicht viel Raum, die Versprechen der Kampfkünste sind andere und zielen auf Selbstverteidigung, wie das folgende Beispiel von Keysi zeigt.
Selbstverteidigung
Auf der Keysi-Website heißt es: »… Justo Diéguez revolutionäre Methode der Selbstverteidigung ist ein Weg, die Realität auf der Straße zu verstehen, in der der Räuber-Angreifer zum Opfer wird und das Opfer zum Räuber, distanziert und radikal«. Die wichtigsten Versprechen sind, dass der Praktizierende in der Realität der Straßenkämpfe in der Selbstverteidigung kompetent wird und die Hierarchie zwischen Aggressor und Opfer durch effiziente (direkte) und effektive (aggressive) quasi-wissenschaftliche Methoden sowie eine ruhige Denkweise verändert5. Der aus den traditionellen japanischen Kampfkünsten bekannte Aspekt der Selbstkultivierung oder Selbstentwicklung scheint nicht besonders betont zu werden, aber der letzte Satz in der Definition von Keysi auf der Webseite deutet auf etwas anderes hin: »Die Methode ist ein Mittel zur Verbesserung der Lebensqualität, das dem Praktizierenden ein extremes physisches, emotionales und mentales Training bietet.«. Auf diese vermeintliche Kontroverse wird im Verlauf des Aufsatzes eingegangen, doch soll zunächst die »Keysi Fighting Method« vorgestellt werden:
Die Keysi Fighting Method (kurz Keysi oder KFM) erlangte mithilfe des Kinos größere öffentliche Aufmerksamkeit. KFM wurde für die Choreografie der Kampfszenen in Christopher Nolans »Batman Begins« und »The Dark Knight« verwendet. Laut McKissack waren zunächst die Produzenten, Stuntmen und Schauspieler von »einem animalischen Kampfstil« beeindruckt, den sie noch nie in einem Film gesehen hatten. KFM wurde von Justo Dieguez und Andy Norman Mitte der 1980er Jahre6 als eine »reine Straßenkampfmethode entwickelt, die auf der Straße konzipiert und im Kampf geboren wurde«. Laut Interviews wuchsen beide Gründer unter schwierigen Bedingungen in einem gewalttätigen Umfeld auf, und vor allem Dieguez musste sich täglich behaupten. Dieguez erlernte mehrere Kampfsportarten und wurde Ausbilder für Jeet Kune Do (JKD), ging zum Militär und schloss sich den Spezialeinheiten an (daher sein Hintergrund in Selbstverteidigung und militärischen Kampfsportarten). Über Norman ist nicht viel bekannt, aber auch er war ein JKD-Ausbilder. Als sich die beiden zufällig bei einem Kampfsport-Workshop kennenlernten, wurden sie Freunde und beschlossen, KFM weiterzuentwickeln. Die Gründer selbst beschreiben ihren Stil als »einzigartig«, »brutal und radikal« und angetrieben von »reinem Blut, instinktiver Reaktion«. Laut Bullman bestreiten sie jede Verbindung zu traditionellen oder anderen Kampfkünsten. Die Stilbegründer behaupten, dass »KFM kein Nachkomme irgendeiner mythischen, magischen Kampfkunst ist«, dass »KFM nicht aus China, Japan oder dem Fernen Osten stammt« und dass »KFM keine Sammlung verschiedener Kampfkünste ist, die alle zusammengemischt wurden« oder dass »KFM nicht im Dojo geboren oder neu erfunden wurde7«. Dieguez und Norman betonen den Aspekt der »Realität« ihrer Kampfkunst mit allen Mitteln und lassen die Leser wissen, dass es keinerlei mythische Verbindung gibt. Sie bauen ihre eigene Erzählung mit einer »Straßenstrategie8« auf, um mit der alltäglichen »realen« Gewalt fertig zu werden. Der Stil selbst hat starke boxerische Elemente und dominiert mit Schlagtechniken (Jab, Cross, Haken, Ellbogen), die ballistisch aus einer Position ausgeführt werden, in der der Kopf fast immer durch die eigenen Arme und Hände geschützt ist (insb. »pensador«, dt. »denkender Mann«). Diese Position ist das Markenzeichen des Stils und resultiert aus der instinktiven Reaktion, den Kopf als den verletzlichsten Körperteil zu schützen. Die Angriffe kommen überraschend, werden aus dieser Position heraus ausgeführt und in einem Fluss angewandt, der eine vollständige und schnelle Deckung des Kopfes ermöglicht, wobei ein neuer Angriff kurz nach dem vorherigen ausgeführt wird. Diese Methode ermöglicht den Nahkampf und schwere Gegenangriffe. Diese offensiven und gleichzeitig defensiven Aktionen sind sehr charakteristisch für KFM, und diese Kampfmethode ist in jeder Position (stehend, sitzend, hockend, liegend) anwendbar. Das Alleinstellungsmerkmal von KFM ist das effektive Reagieren auf mehrere Angreifer. KFM ist vor allem für Situationen wie Bandenangriffe konzipiert, mit einem inhärenten multidimensionalen oder 3D-Situationsfokus für den Kampf gegen mehrere Bedrohungen zur gleichen Zeit. Der Körper bewegt sich praktisch in aale Richtungen (360°) und setzt, wenn nötig, die offensiv-defensive Strategie ein.
Die Philosophie von Keysi
Die Gründer beschreiben die Philosophie von Keysi als »auf Wissen, Forschung und Experimenten beruhend« und als »eine Art, Wissen zu verstehen, zu entwickeln, auszudrücken und weiterzugeben«. Sie erklären, dass »persönliches Wachstum auf dem Glauben basiert, der kein Ziel ist, sondern ein Zweck, der uns zur höchsten Stufe der persönlichen Erfüllung als Mensch führt.« Persönliches Wachstum scheint ein Schlüsselaspekt zu sein, um die Kunst und das Leben zu meistern, und der Begründer entwickelte eine »Methodik […], die auf persönlichem Wachstum basiert.…. Die Keysi-Methode besitzt den Schlüssel, der die Tür zu deinem eigenen Weg öffnen kann und dir hilft, dein inneres Wissen als Hauptquelle der Weisheit zu entdecken.«. Auf den ersten Blick passt diese Aussage nicht wirklich zu einem Stil, der auf einem realitätsbezogenen Selbstverteidigungssystem basiert, das jede mythische oder technische Verbindung zu den japanischen Kampfkünsten (oder anderen Kampfkünsten) ablehnt. Bei der Selbstverteidigung und den militärischen Kampfkünsten liegt die Hauptphilosophie in ihrer Effektivität und der Förderung des Kampfgeistes. Die Anwendung des Prinzips »keine Regeln«, die den Geist des Ausübenden stören oder ihn behindern könnten, ist den Kämpfern auf den Schlachtfeldern und in den Straßen vertraut. Diese militaristische und egozentrische Denkweise ermöglicht eine hohe Effektivität und ist für das Hauptziel des Überlebens unerlässlich. Da die Informationen über die Philosophie des Stils auf der Keysi-Website jedoch einen Weg der Selbstkultivierung beschreiben, scheint es, dass diese Kampfkunst Ideen mit den zuvor beschriebenen japanischen Kampfkunstphilosophien teilt. In der Philosophie geht es um »Zweck«, »Respekt«, »Geduld«, »Ausdauer« und »Perspektive«. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Perspektive auf diese Aspekte unterschiedlich ist. Bei Keysi ist die Perspektive egozentrisch und darauf ausgerichtet, eine selbstbewusste, selbstsichere Kampfmentalität zu etablieren. So wird »Respekt« vor allem von (eigenen) Leistungen abgeleitet, »Geduld« steht für Selbstbeherrschung und »Perspektive« für das, was in der jeweiligen Situation zu tun ist. Selbsterziehung und Kultivierung verfolgen kein gesellschaftliches Fernziel, sondern sollen eine instinktive Kampfhaltung mit Umweltbewusstsein kultivieren. Ein starkes Narrativ ist die Umkehrung der Räuber-Beute-Beziehung in vermeintlich aussichtslosen (risikoreichen) Situationen, wenn man von mehreren Bedrohungen überwältigt wird und die Situation dennoch kontrollieren will. Die Philosophie von Keysi macht keinen Versuch, etwas mehr zu bieten, was mit dem selbst gegebenen Zweck der Kampfkunst übereinstimmt. Indes versucht Keysi, wie andere Kampfkünste aus dem Militär- und Selbstverteidigungsbereich, Trainingssituationen zu schaffen, die die Realität von Kampf- oder Gefechtssituationen widerspiegeln.
Tatsache ist, dass nur reale Situationen als solche erlebt werden und alle anderen Versuche Simulationen sind, die Ersatzrealitäten mit künstlich gesetzten Bedingungen darstellen. Dagegen ist nichts einzuwenden, denn standardisierte Handlungen können wiederholt, verglichen, bewertet und korrigiert werden, und das ist notwendig, um die Fähigkeiten zu erlernen. Der Transfer der Fertigkeiten, eingesetzt in der Realität, mit verschiedenen und unvorhersehbaren Eventualitäten, ist etwas ganz anderes und viel anspruchsvoller. Laut Bowman wird »Training für den Kampf […] bestenfalls als asymptomatische Realität betrachtet«. Trotz maximaler Bemühungen, eine realistische Situation zu schaffen, werden die Übenden nicht die volle Kraft auf ihre Trainingspartner (!) anwenden und sich mit schweren Verletzungen zurückhalten. Dieses Beispiel aus der täglichen Trainingsrealität unterstreicht Bowmans Behauptung sehr gut. Auch wenn ein gewisses Maß an Aggression und Brutalität in einer nicht lebensbedrohlichen Situation angewendet wird, handelt es sich um eine Simulation.
Das Konzept der Hyperrealität im Kampfsport
Mit der Ultimate Fighting Challenge (UFC) gab es 1993 ein Medienereignis, das den Realitätsaspekt des Kampfsports weiter thematisierte, wenn auch mit einer starken kommerziellen Absicht dahinter. Die Idee war, mehrere Kampfsportarten gegeneinander antreten zu lassen, um den Stil zu ermitteln, der alle anderen Stile in der »Realität« dominiert. Da sich die Kampfsportarten, die gegeneinander antraten, stark unterschieden (Sumo, Boxen, Karate, Savate, BJJ, …), galt die Regel »No Rules«, um einzelne Stile nicht zu benachteiligen. Der erste UFC-Kampf überhaupt fand zwischen Sumo (Teila Tuli) und Savate (Gerard Gordeau) statt und endete sehr schnell mit einem Tritt gegen den Kopf des Rikishi9, was zu einem Schädel-Hirn-Trauma mit massiven Gesichtsblutungen und dem Verlust eines Zahns führte. Bei der Nachbetrachtung des Kampfes wurde deutlich, dass das Trauma nicht versehentlich entstanden war, da der Gegner bereits am Boden lag, nicht kampfbereit war und der Tritt trotzdem absichtlich ausgeführt wurde, um zu beenden, was begonnen wurde. Für die Zuschauer, und nicht nur für sie, war dies eine neue (aufregende) Erfahrung, und die Eckencrews und Schiedsrichter schienen etwas irritiert und ratlos zu sein, wie sie vorgehen sollten. Die Folgen (absichtliche Verletzungen) waren offensichtlich »echt« und bewiesen den Kommentatoren, dass der Kampf »echt« war, was im Umkehrschluss implizierte, dass andere Kampfsportarten weniger realistisch seien. Die Entwicklung der UFC hat den neuen Stil der Mixed Martial Arts (MMA) hervorgebracht und damit, Hand in Hand, die Erzählung vom »echten Kampf« eingeleitet. Janet O'Shea definiert den Begriff der »Hyperrealität« im modernen kommerziellen Kampfsport als »eine Form des Realismus, für die es keine stabile Referenz gibt und innerhalb derer der Wunsch nach dem Realen bestehen bleibt«. Von der UFC- und MMA-Gemeinschaft werden Maßnahmen ergriffen, um dem Konzept des Kampfsports mehr Realität zu verleihen. Im nächsten Abschnitt wird dieses Thema ausführlich behandelt.
Hyperrealität: MMA
Mixed Martial Arts (MMA)-Veranstaltungen sind ein weltweites Phänomen, das vor allem in Europa immer mehr an Popularität gewinnt. Die Medien spielen dabei eine wichtige Rolle, denn die Übertragung der allegorischen Gladiatorenkämpfe ist ein Unterhaltungsspektakel für Zuschauer aller Gesellschaftsschichten. MMA steht in der Tradition einer kampfzentrierten Form der Körperbewegung, die vom antiken Pankration (vermutlich) bis zu den brasilianischen Vale-Tudo-Kämpfen des 20. Jahrhunderts als Zirkusattraktion (auf jeden Fall) reicht, und vollzog ab den 1990er Jahren den Wandel vom Spektakel zum Sport. Zu Beginn lautete das Motto der Kämpfe für die UFC 1–6 »Es gibt keine Regeln«, und in der Tat gab es keine spezifischen Regeln, die anzuwenden waren. Dies änderte sich in den folgenden Jahrzehnten drastisch, als ein umfassendes Regelwerk eingeführt wurde. Diese ermöglichten eine bessere Kontrolle, Objektivität und Vergleichbarkeit der Kämpfe und der Kämpfer. Dies war eine Notwendigkeit, um eine professionellere Haltung zu unterstreichen, und es bereitete auch den Boden für bessere Übertragungsmöglichkeiten bei den etablierten Fernsehsendern in den USA, indem es die Kämpfe, zumindest oberflächlich betrachtet, familienfreundlicher machte: Dieser Einfluss der Medien wurde im MMA mehr als deutlich, da sich die Regeln an die entsprechenden, entweder direkt kommunizierten oder implizierten Forderungen des Publikums und der Verantwortlichen bei den Sendeanstalten anpassen mussten. Als die UFC durch die Übernahme von konkurrierenden Veranstaltern wie der japanischen PRIDE-Organisation im Jahr 2007 das MMA-Monopol erlangte, gewann sie die volle Kontrolle über die Definition eines fernseh- und zielgruppenspezifischen Kampfes (siehe hierzu ausführlich Sánchez García und Malcolm). Zusätzlich zu den Kämpfen wurden Elemente zur Steigerung der Showeffekte implementiert, wie z. B. Kämpfe in Käfigen, kein Aufwischen des Blutes auf dem Boden zwischen den Runden oder eine bessere Inszenierung der Kämpfer durch Hintergrunderzählungen10. Kurzum: Während schwere Verletzungen laut Reglement vermieden werden sollen, soll das Spektakel dennoch blutig sein, um es für die Zuschauer attraktiver zu machen. Offensichtlich gibt es ein starkes kommerzielles Interesse an MMA- und Boxveranstaltungen gleichermaßen.
Die Beziehung zwischen MMA und Boxen ist eng, da beide heutzutage um die gleichen Zuschauer konkurrieren. Es gibt offensichtliche Parallelen zu modernen, aber auch traditionellen Kampfsportarten, wie es das Boxen ist. Darüber hinaus haben MMA und Boxen viele Gemeinsamkeiten, die sich nicht nur auf den glorifizierten und medienwirksamen Gang in den Ring (bzw. Käfig) beschränken. So werden zum Beispiel die Kämpfe mit Handschuhen ausgetragen (auch wenn diese im MMA kleiner sind), und Raum- und Zeitbeschränkungen werden vorgegeben. Kämpfer müssen sich an vordefinierte Regeln halten, es gibt Schiedsrichter, die für die Einhaltung der Regeln sorgen, und es werden Sieger und Verlierer ermittelt, Meisterschaften ausgetragen. Ein großer Unterschied zwischen MMA und Boxen ist die Bandbreite der Techniken, der Einsatz des eigenen Körpers als Waffe und die Methoden, die im Wettkampf erlaubt sind. Ein Kampf kann durch K.O. und technischen K.O. gewonnen werden, ähnlich wie beim Boxen, aber auch durch eine von einem der Kämpfer angezeigte Kapitulation. Im MMA beschränken sich die erlaubten Techniken nicht nur auf Tritte und Schläge. Von größerer Bedeutung ist der Aspekt des Bodenkampfes mit Takedowns und Submission Holds (Submissionstechniken, Unterwerfungsmethoden). Zu letzteren gehören nach Staack Hebel- und Würgegriffe, die dazu dienen, die Körperbewegungen des Kämpfers zu kontrollieren, was zu einer körperlichen Isolation mit stark eingeschränkten Bewegungsfreiheitsgraden führt11. Zu den Unterwerfungsmethoden gehören auch Techniken, die Schmerzen durch Krafteinwirkung auf oder übermäßige Beugung von Gelenken (Hebelwirkung) hervorrufen, oder Techniken, die den Blut- oder Luftstrom durch Würgen beeinflussen. Die Kapitulation des unterlegenen Kämpfers wird in der Regel durch »Klopfen« mit der Hand auf den Körper des Gegners oder auf den Boden oder lautstark angezeigt.
Philosophie der MMA
Die Unterwerfung (engl. »submission«) ist ein Schlüsselelement des MMA und von zentraler Bedeutung für Training und Kampf. Die Anwendung, Erkennung und Vereitelung von Unterwerfungen ist für jeden MMA-Kämpfer von Bedeutung. Die Fähigkeit, Unterwerfungen zu erkennen und abzuwehren, ist ein wertvolles Kapital für den Kampf im Oktagon12. Nicht minder wichtig ist die Fähigkeit, die eigene Situation objektiv zu analysieren und rechtzeitig zu erkennen, wann man aufgeben muss, um schwere Verletzungen zu vermeiden. Selbsterhaltungsstrategien und Eigenverantwortung sind von großer Bedeutung, da eine falsche Entscheidung nicht nur zum Verlust des Kampfes, sondern sogar zum Ende der Karriere führen oder schwere und irreversible körperliche Schäden und manchmal sogar den Tod verursachen kann. Andererseits ist es in diesem kommerziell ausgerichteten und egozentrischen Sport nicht einfach, die eigene Niederlage einzugestehen, da dies direkt und negativ mit dem Verlust von Ansehen und Einkommen verbunden ist. Beim Boxen wird von den Kämpfern erwartet, dass sie auf keinen Fall aufgeben, egal was passiert. Das Motto »Solange du stehen kannst, wirst du kämpfen« (siehe Luckas) beherrscht die Kampfdynamik. Nur der Trainer kann buchstäblich »das Handtuch werfen« und den Kampf freiwillig beenden. Im MMA ist es dem Kämpfer erlaubt, diese Entscheidung der selbstbestimmten Aufgabe zu treffen, die von allen Beteiligten, einschließlich des Publikums, akzeptiert wird. Beim Boxen ist die selbstbestimmte Aufgabe keine Option, und andere (nicht unehrenhafte) Fluchtmöglichkeiten, wie das Vortäuschen eines K.O., sind nach den Regeln nicht zulässig. Das philosophische Element kann in Anlehnung an Staack angesprochen werden: »Neben dem Erlernen, wie man andere durch Unterwerfung besiegt, und der damit verbundenen Verantwortung, ist das Erlernen, wie man die eigene Verantwortung und Selbstbestimmung aufgibt, sowie das Erlernen, wie man die eigene Niederlage eingesteht, ein zentrales Element eines jeden MMA-Trainings.«.
Diskussion
Der Ursprung der Kampfkünste liegt zweifelsohne im menschlichen Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und dem Wunsch, den Gegner zu beherrschen. Die Geschichte belegt, dass sich Praxis, Wahrnehmung und Philosophie der Kampfkünste in Kriegs- und Friedenszeiten erheblich verändert haben. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert erlebten die japanischen Kampfkünste beispielsweise einen erstaunlichen Wandel von hocheffizienten militärischen Kampfkünsten und Selbstverteidigung hin zu körperlichen und geistigen Wegen der moralischen Kultivierung. Seit dem späten 20. Jahrhundert ist ein mediengesteuerter Wandel in die andere Richtung im Gange. Das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang ist »Realität«, was in diesem Fall ein Synonym für »Glaubwürdigkeit auf der Straße« bei der Selbstverteidigung und »entfesseltes Kämpfen» bei den Sportkämpfen ist. Die Nachfrage nach dieser »konkreten« Realität nimmt bei den Praktizierenden und Zuschauern stetig zu, aber gibt es auch einen Rückgang der moralischen Selbstkultivierung? Die realitätsorientierten Kampfkünste von militärischen Stilen bis hin zu Keysi und MMA konzentrieren sich auf Zielorientierung. Diese Ziele unterscheiden sich aus der Perspektive der einzelnen Kampfkünste. Am extremen Ende des Spektrums ist das Ziel in den militärischen Kampfkünsten, das eigene Überleben zu sichern, während der Gegner sein Leben verlieren kann. Bei den Selbstverteidigungsstilen ist das Ziel, den Konflikt zu überleben, ohne den Gegner zu töten. Im Kampfsport geht es darum, den Kampf zu gewinnen, aber keine schweren Langzeitschäden zu erleiden oder zu verursachen. Prozessorientierte Vertreter japanischer Kampfkünste wie Judo, Karate und Aikido hingegen streben den Prozess des Übergangs (der Selbstveränderung) als erstrebenswertes (langfristiges) Ziel an, während sie die lebensbedrohlichen Aspekte der Kunst teilweise (Judo und Karate) oder vollständig (Aikido) reduzieren. Offensichtlich gibt es völlig unterschiedliche Philosophien, die auf die beschriebenen Kampfkünste angewandt werden, und es scheint, dass ihre Haltungen diametral zueinander stehen. Dennoch teilen die Kampfkünste eine Reihe von philosophischen Aspekten, auch wenn sie unterschiedlich ausgedrückt werden. Zweifellos steht das »Selbst« immer noch im Mittelpunkt aller Bestrebungen, aber seine Funktionen in der Gesellschaft sind unterschiedlich. Es ist zu bedenken, dass das »Selbst« in der europäischen und japanischen Kultur unterschiedlich wahrgenommen (und bewertet) wird. Das europäische, eher egozentrische Konzept des »Selbst« steht in starkem Kontrast zum japanischen Verständnis des »Selbst«, das sich mehr auf die Wahrnehmung des Einzelnen durch die Gemeinschaft konzentriert. Es ist verständlich, dass Keysi die egozentrische Denkweise des Ausübenden nährt. Ein gnadenloser, konzentrierter und selbstbewusster Selbstverteidiger hat bessere Chancen, mehrere Angreifer zu überleben. Für einen gebildeten Menschen, der in Frieden, Reichtum und Harmonie lebt, kann das Erlernen einer egozentrischen Haltung beim Kämpfen erhebliche Anstrengungen erfordern. Der ethische Kodex von Keysi weist entfernte Ähnlichkeiten mit Bushido auf, fast wie eine Renaissance dieser Kunst. Es gibt eine Selbstkultivierung, die jedoch 180 Grad von dem Ideal entfernt ist, das Kano, Funakoshi und Ueshiba im Sinn hatten. Aus der Sicht der Gesellschaft ist dies nicht die attraktivste Entwicklung, wenn man davon ausgeht, dass die Realität die des Friedens, der Liebe und der Barmherzigkeit ist. Aus der Sicht eines bedrohten Individuums hingegen ist dieses Konzept absolut plausibel und erstrebenswert. Es wird hier jedoch kein Urteil über die Philosophie von Keysi gefällt, sondern es wird nach Lloyds argumentiert, dass »selbst ihre modernsten und brutalsten Kampfkünste immer noch Formen der spirituellen Askese sind«. Dies ist ein Aspekt, der mit den alten Meistern übereinstimmt, wenn er aus der Ferne und mit einem frischen Geist betrachtet wird.
Ein anderes Beispiel stellen die gemischten Kampfkünste (Mixed Martial Arts) als Vertreter der »Hyperrealität« dar: Hier scheinen die Tugenden der japanischen Kampfkünste nicht anwendbar zu sein, auch wenn MMA eine Verbindung zu Judo und Karate nicht leugnet (wie könnten sie auch?). Aber diese Aussage ist vielleicht nicht ganz fair, denn einige Kämpfer, die profunde Kenner traditioneller Stile wie Karate waren, wie z. B. George St. Pierre für Kyokushin Karate, brachten einige der klassischen Werte in das Oktagon. St. Pierre zollte seinen Gegnern Respekt, vermutlich nur als Teil vom Meister erlernter Etikette. Seine jahrelange Selbstkultivierung zeigte Wirkung – selbst im »hyperrealen« Raum der UFC und des MMA. Das Regelwerk der UFC stellte keine Anforderungen in dieser Richtung, aber es war St. Pierres freundliche und sanfte Einstellung, die vom Publikum sehr begrüßt wurde – natürlich zusammen mit seinem außergewöhnlichen Kampfwillen, seinem Können und seiner Kompromisslosigkeit. In der Kampfarena, in der der Wettbewerb – und die entsprechende Denkweise – regieren, ist eine freundliche Einstellung jedoch selten zu sehen.
Die »Realität» ist hier der Wettkampf, und für die Wettkämpfer geht es beim Kämpfen in erster Linie um etwas anderes als um Ehre und Ruhm: Materielle Anreize sind oft viel wichtiger. Wenn nach anwendbaren Philosophien gesucht wird, könnten die Sportphilosophien am ehesten anwendbar sein. Aus der Perspektive der Kampfkunst ist das »Selbst« wieder von Bedeutung, wie das Beispiel von Keysi zeigt. Im Wettkampf geht es nicht um Leben und Tod, sondern um Sieg und Niederlage. Im MMA haben die Kämpfer die Möglichkeit, durch Abklopfen aufzugeben. Dieser Aspekt entspricht nicht der Bushido-Haltung des Kriegers, aber ist dies wirklich ein ausreichender Beweis für die Anwendung der Selbstkultivierung? Staack sieht die selbstbestimmte Kapitulation als eine persönliche Leistung. Die Ethik richtet sich an das Selbst, ohne Auswirkungen auf den Gegner. Es scheint, als ob für die japanische Moralinstitution in der »Realität« wenig Platz bleibt, aber warum ist das so? Vielleicht liegt der Grund in der allgemeinen Veränderung des kulturellen Umfelds. In der japanischen Gesellschaft mögen diese Veränderungen z. B. auf die zunehmende Vernachlässigung der kulturellen Errungenschaften zurückzuführen sein, aber auch auf das abnehmende Interesse an den Grundwerten und Philosophien, die den japanischen Kampfkünsten einst zum Aufblühen im Land verhalfen. Darüber hinaus haben die Werte des Budo eine Brücke geschlagen und sich in ganz anderen kulturellen Systemen, insbesondere in der westlichen Hemisphäre, entfaltet. Martinkowa spricht von »seinem hervorstechenden Zweck, der moralische Erziehung und Selbstentfaltung umfasst«. Wie in diesem Beitrag gezeigt wird, ist die Einordnung der verschiedenen Kampfkunststile in die traditionellen philosophischen Konzepte des Budo selbstbeschränkend. Buddhismus, Shintoismus, Konfuzianismus und Daoismus sind die philosophischen Grundlagen für die meisten asiatischen Kampfkünste, da die Stile im kulturellen Kontext entwickelt wurden. Doch mit dem Einsatz der Kampfkünste in unterschiedlichen kulturellen Umgebungen passten sich die Philosophien an. Ein gutes Beispiel ist der Import von Taekwondo in die USA. Die spirituelle Identität der Kunst ging dabei nach und nach verloren, weshalb die US-Praktizierenden mehr Wettbewerb forderten. Der Artikel »The Future Course of the Eastern Martial Arts« von Allan Back und Daeshik Kim aus den 1980er Jahren veranschaulicht diesen philosophischen Wandel treffend, ohne jedoch zu erklären, was die Gegenphilosophie im neuen Kontext beinhalten sollte oder ob es überhaupt notwendig ist, philosophische Aspekte einzubeziehen. Die fehlende Berücksichtigung dieser Faktoren illustriert den blinden Fleck gut, nämlich die Tatsache, dass es tatsächlich übersehene Philosophien gibt, die nicht mit den traditionellen Ansichten über Kampfkunstphilosophien übereinstimmen. Um beim Beispiel des Taekwondo zu bleiben: In diesem Fall ging die Entwicklung hin zu einer Sportphilosophie mit eigenen Ideen, Zielen und einer eigenen Ethik. Die Beurteilung, ob es sich dabei um einen guten – fortzuführenden – Prozess handelt oder eher um eine kritisch zu betrachtende Fehlentwicklung, hängt von der individuellen Einstellung des Praktizierenden, seinen persönlichen Zielen und seiner Denkweise ab. Meiner Meinung nach ist in der Kampfkunst ein vorgeschriebenes Dogma zur Philosophie nicht vertretbar, da dies die allgemeine Entwicklung der Kampfkünste stark einschränken könnte. Der oft positiv wahrgenommene Wandel von der kampfbetonten Kampfkunst (jpn. »Jutsu«) zur moralischen Selbstentfaltung (Budo) ist das Ergebnis eines philosophischen Diskurses, der sich über viele Jahrhunderte hinzog. Die Bushido-Ethik der Samurai umfasste die Elemente Ehre, Mut, kriegerische Haltung, Geschicklichkeit und ein enthaltsames Leben. Diese praktische Kriegsphilosophie wurde in unzähligen Konflikten angewandt, entwickelte sich aber während der langen friedlichen Perioden der Tokugawa-Periode und der Meiji-Restauration weiter und umfasste zunehmend zusätzliche theoretische Konzepte. Die Anwendung der Zen-Meditation wurde beispielsweise in den mit Jutsu verbundenen Kampfkünsten angewandt, vor allem um die Kampffähigkeiten der Samurai zu verbessern. Das Zen-Konzept13 Mushin (»gedankenlos«) ermöglicht es dem Praktizierenden, »diesen Geisteszustand (frei von Ablenkungen, Gedanken, Sorgen, bewusster Planung) nach Belieben, bei Bedarf und nicht als Panikreaktion« herzustellen. Hierdurch wird eine vollständige Konzentration auf den Gegner ermöglicht und Zanshin (»ausgeglichener Geist«) hergestellt, was zu einem hohen Grad an Bewusstsein und Bereitschaft führt. Der ethische Kodex der Samurai, der Bushido, »interessierte sich nicht für die Moral der Handlung selbst oder für die Folgen14«. Später, mit Kano, Funakoshi und Ueshiba, änderte sich die Bedeutung der Zen-Aspekte vor allem in Richtung einer Methode zur Verbesserung der Selbstentfaltung. Zu den weiteren Transformationen gehört die Umwandlung von tödlichen und gefährlichen Methoden in wichtige pädagogische Techniken, die als Kata bekannt sind. Laut Lloyd begann man in dieser Zeit, die Kampfkünste »für religiöse und quasi-religiöse Zwecke zu praktizieren«, und buddhistische, taoistische und konfuzianische Philosophien wurden mit Kampfkunsttechniken kombiniert, mit dem Ziel der »Selbstentfaltung«, des »geistigen Bewusstseins« und der »Erleuchtung«. Kano, Funakoshi und Ueshiba entwickelten die japanischen Kampfkünste weiter und verwandelten den destruktiven, negativen Charakter der Kampfkünste in einen erholsamen, erzieherischen, positiven Charakter mit einer sehr positiven Resonanz im frühen 20. Jahrhunderts. Ein Grund für den großen Erfolg von Judo und Karate war der Wettkampfaspekt, der sich aus der Forderung der Schüler ergab, sich ähnlich wie bei Sportveranstaltungen miteinander zu messen. Sport war damals Zeitgeist in Europa und den USA, und mit der Verwestlichung Asiens fand er seinen Weg nach Japan15. Wie die Geschichte zeigt, gerieten einige der alten Meister in Konflikt mit der Sportifizierung des Budo (z. B. Funakoshi vom Shotokan Karate). Das Konzept des Wettkampfes stimmte nicht mit der Philosophie überein, wurde letztendlich dennoch akzeptiert, da es wesentlich dazu beitrug, die Kampfkünste weiterzuverbreiten und in der Gesellschaft zu verankern. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass schon in der Vergangenheit, als Judo und Karate gegründet wurden, nicht nur die spirituelle Kultivierung und der Wunsch nach Selbstentfaltung die traditionellen japanischen Kampfkünste zu einem (weltweiten) Erfolg machten. Vielmehr waren es schon damals das Spektakel, das Spiel und der Wettkampf, der die breite Masse begeisterte.
Schlussbemerkungen
Oft wird von Praktizierenden und Zuschauern der Kampfkünste angenommen, dass das Training der Kampfkünste automatisch mit dem Training der Tugenden einhergeht. Dem kann sicherlich unter der Prämisse zugestimmt werden, dass Selbstkultivierung als ein transformativer Prozess des »Selbst« verstanden werden kann, nicht aber, wenn sie als Mittel der Tugenden interpretiert wird, die in Richtung einer humanistischen Gesellschaft führt. Die alten Meister Kano, Funakoshi und Ueshiba überwanden die traditionelle Bushido-Haltung und sublimierten sie zum Budo: eine Philosophie der Selbstkultivierung, die den Übenden helfen soll, ihr negatives »Ich« zu überwinden und ein starkes und unterstützendes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Budo als ethische Schule ist ein gutes Beispiel für die Institutionen in Japan. In der westlichen Hemisphäre wurden (und werden) diese Gedanken ebenfalls geschätzt, aber seit der Implementierung der traditionellen Kampfkünste in den westlichen kulturellen Kontext waren immer wieder Anpassungen an die westlichen kulturellen Präferenzen zu beobachten. Zielorientiertes, wettkampforientiertes Denken dominiert (noch) die westliche Denkweise, was mit den östlichen Philosophien nicht ganz vereinbar ist. Vor der UFC gab es in Japan eine vergleichbare Einrichtung, die jedoch nie den Erfolg ihres westlichen Pendants hatte. Diese Tatsache könnte auf ein anderes philosophisches Denken der Japaner zurückzuführen sein – auch wenn sie unter starkem westlichem bzw. US-amerikanischem Kultureinfluss standen. Diese Frage wäre eine Untersuchung wert, die möglicherweise in einem weiteren Aufsatz behandelt werden sollte. Meiner Meinung nach unterstützt der aktuelle Zeitgeist in der westlichen Hemisphäre, der für Selbstverwirklichung, schnellen Konsum und Überangebot steht, den Aspekt der »realen« und »hyperrealen« Kampfkünste sehr gut. Aber es wird möglicherweise eine Zeit kommen, in der sich die Menschen wieder an anderen, humanistischen Werten16 orientieren. Die Gedanken der alten Meister werden dann eine willkommene und geschätzte Ressource sein und eine Renaissance erleben.
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Footnotes
- Wer sich dafür interessiert, sollte die Website https://www.keysiworld.com/ besuchen. Dort findet sich ein kurzer geschichtlicher Überblick und eine Einführung in den Ethikkodex. Auf letzteren wird später in diesem Aufsatz noch näher eingegangen. ↩
- Nicht nur in meiner Heimatstadt, denke ich. Obwohl es eine starke Wing Chun-Gemeinschaft in Hannover gibt, bereichern einige Schulen ihr Angebot mit mehr »realitätsbezogenen« Stilen, z. B. »Defence Lab«, einen Keysi-Ableger von Andy Norman. ↩
- Eine von Funakoshis berühmten Aussagen macht dies ganz deutlich: »Karate beginnt und endet mit Höflichkeit.« ↩
- Für weitere Details zu diesem Thema empfehle ich den Aufsatz »Dojo Etiquette« von Wilson. ↩
- Ohne es direkt auf der Website anzusprechen, impliziert der Verfasser der Präsentation, dass andere Kampfkünste, die hauptsächlich in Trainingshallen praktiziert werden, für diese Realität nicht geeignet sind. ↩
- Die Gründer selbst ziehen eine nicht näher erläuterte Verbindung zu den späten 1950er Jahren und der Geburt von Dieguez. ↩
- Diese Behauptung scheint ein wenig abwegig zu sein, da es sehr unwahrscheinlich ist, dass der Gründer jeglichen Einfluss der anderen Kampfkünste, die er praktizierte, vermeiden konnte. Zumindest einer der Begründer war Ausbilder für JKD oder ausgebildet in philippinischem Kali oder Boxen. Zumindest als negative Beispiele für die im KFM entwickelten Techniken müssten sie getaugt haben. ↩
- Der Begriff der »Straßenstrategie« wurde ergänzt, da Wetzlers Definitionen von Bewältigungsstrategien nicht zu KFM und verwandten Kampfkünsten passen, von denen behauptet wird, dass sie »auf der Straße geboren« wurden. ↩
- jpn für. »Sumō-Kämpfer« ↩
- Staack hat sich intensiv mit der Thematik auseinandergesetzt und im Verlauf dieses Aufsatzes öfter referenziert. ↩
- Schläge, Tritte und Submissions machen die Kämpfe durch schnelle Aktionen und eine größere Vielfalt an Kombinationen von Techniken interessant. Submissionstechniken können aus nahezu jeder Position, in jeder Kampfphase und an jedem Gelenk des Körpers angewendet werden. Was die Spannung im Kampf erhöht, ist die Tatsache, dass sich Kämpfer, die sich am Boden befinden, aus dieser ungünstigen Position befreien und durch geschicktes Kämpfen sogar das Blatt wenden können. Anders als beim Boxen, bei dem das Kämpfen am Boden nicht erlaubt ist und der Kampf, wenn es dazu kommt, unterbrochen oder beendet wird, je nachdem, ob der Kämpfer aufstehen und weiterkämpfen kann. ↩
- Das Achteck (Oktagon) bildet die geometrische Grundstruktur des sportlichen Kampfplatzes. Zur Steigerung der Dramaturgie und mutmaßlich zum Schutz der Zuschauer ist diese Arena mannshoch umzäunt. Der Boden ist gewöhnlich ein im Kampfsport üblicher Schwingboden. ↩
- Hier kann die Lektüre von Shunryu Suzuki empfohlen werden. ↩
- Zitiert Lloyd, der weiter ausführt, dass »[Bushido] den Krieger ermutigte, entschlossen voranzugehen, sobald er sich zu einer Handlung entschlossen hatte, unabhängig davon, ob diese Entscheidung rational oder moralisch war. Angst führte zu Zögern und war ein Hindernis für die geistige Gelassenheit und für die Schwertkunst«. ↩
- Es muss berücksichtigt werden, dass Kano in Europa ausgebildet wurde und unter dem Einfluss der dortigen kulturellen Entwicklungen stand. ↩
- Zu Recherchezwecken sprach ich mit einem jungen, erfolgreichen Schüler einer MMA-Schule. Er warf zu meinem Erstaunen ein, dass er seine Kinder lieber zuerst Judo oder Karate lernen lassen würde. Seine Kinder würden durch diese Künste Respekt, Hierarchie und Umgangsformen lernen, wovon sie später profitieren würden. Offensichtlich werden diese Aspekte nach wie vor als relevant und wertvoll angesehen, weil sie im Kontext ihrer sozialen Auswirkungen auf das tägliche Leben besser anwendbar und nützlich sind. Natürlich ist dies sowohl im Oktagon als auch auf der Straße anders zu sehen. ↩