Vovinam in den Indochinakriegen: Kampfkunst zwischen Nationalismus und Selbstverteidigung
In diesem Aufsatz wird die politische Dimension von Kampfkünsten am Beispiel des vietnamesischen Vovinam beleuchtet. Ursprünglich als Ausdruck nationaler Identität im Widerstand gegen die Kolonialherrschaft gegründet, wurde Vovinam in der militärischen Ausbildung Vietnams institutionalisiert. Der Aufsatz beschreibt den historischen Kontext der Indochinakriege und zeigt, wie Kampfkünste gezielt für politische und militärische Zwecke genutzt wurden. Vovinam verbindet traditionelle Techniken mit modernen Einflüssen und war auf Effizienz und körperliche Ertüchtigung ausgerichtet. Die Kampfkunst diente als Werkzeug im Guerillakrieg des Vietcong. Es wird zwischen militärischer und ziviler Anwendung unterschieden. Vovinam veränderte sich mit der Migration nach dem Vietnamkrieg zur zivilen Friedenspraxis. Großmeister Le Sang prägte den humanistischen Wandel. Die Kampfkunst steht damit exemplarisch für den Übergang vom Widerstandsmittel zur persönlichen Entwicklung.
Welche Kampfkunst betrieben wird, hängt primär von den individuellen Vorlieben und Vorstellungen ab. In der Regel wird ein Stil danach ausgewählt, in welchem Ausmaß er bestimmte Bedürfnisse befriedigt. Das kann das Bedürfnis nach Verteidigungsfähigkeit, Fitness, Wettkampf, Ästhetik, Zugehörigkeit zu einer Gruppe/Tradition oder esoterischer Selbstverwirklichung sein. In Kriegs- und Krisenzeiten dominiert der Verteidigungs- und Angriffsaspekt. Es gibt allerdings noch eine politische Dimension von Kampfkünsten, die oftmals nicht oder nur beiläufig wahrgenommen wird. Das vietnamesische Vovinam hatte beispielsweise eine stark nationalistische Konnotation, die politisch (aus-)genutzt wurde. Die Kampfkunst wurde als Ausdruck des Widerstands und des Patriotismus gegründet. Politisch wurde es zur Stärkung des Nationalismus genutzt und als militärische Kampfkunst in der Kadettenausbildung verankert. In den folgenden Abschnitten wird die Rolle des Vovinam im politischen und militärischen Konflikt genauer untersucht. Hierzu werden die Indochinakriege kurz erläutert und die Gründungsgeschichte in diese Zeit eingebettet, technische Elemente der Kampfkunst werden beschrieben und Aspekte einer militärischen Kampfkunst erörtert.
Die Indochinakriege
Im 20. Jahrhundert kam es in der französischen Kolonie Vietnam zu antikolonialen Ressentiments. Diese führten zum Ersten Indochinakrieg zwischen 1946 und 1954 zwischen den Franzosen und den Vietminh1. Letztere verfolgten das Kriegsziel eines unabhängigen kommunistischen vietnamesischen Staates. Die Vereinigten Staaten von Amerika (USA) sahen in der wachsenden Akzeptanz des Kommunismus im südostasiatischen Raum (unter dem Einfluss Chinas und der Sowjetunion) eine zunehmende Bedrohung für die soziale, wirtschaftliche und politische Integrität des Landes. Daher unterstützten die USA unter der Präsidentschaft von Dwight D. Eisenhower die Franzosen finanziell und mit Waffen. Die Vietminh wurden von China und der Sowjetunion unterstützt. Die Franzosen wurden in der Schlacht von Dien Bien Phu besiegt. In der Genfer Friedenskonferenz von 1954 wurde die französische Kolonie Indochina anschließend in die unabhängigen Länder Kambodscha, Laos und (Nord- und Süd-)Vietnam aufgeteilt. Der Friedensvertrag sah Vereinigungswahlen zwischen dem kommunistischen Nord- und dem nicht kommunistischen Südvietnam vor. Diese wurden von letzterem mit Unterstützung der USA 1956 boykottiert. 1960 bildete sich in Hanoi eine Guerillaarmee namens Vietcong (der militärische Arm der »Nationalen Befreiungsfront«) als Antwort des Nordens, die die südvietnamesische Regierung bekämpfte. Die USA schickten in den folgenden Jahren bis zu 16.000 Soldaten in die Region. 1963 eroberte der Vietcong das landwirtschaftlich wichtige Mekong-Delta. 1965 traten die USA unter Lyndon B. Johnson offiziell in den Zweiten Indochinakrieg ein und schickten 184.000 Soldaten nach Vietnam, nachdem die Golf-von-Tonkin Resolution im Kongress verabschiedet worden war. Die Zahlen stiegen 1968 auf 540.000 Infanteristen an. Im selben Jahr führten die Nordvietnamesen die massive Tet-Offensive mit einem immensen Verlust an nordvietnamesischen Menschenleben durch und das Massaker von My Lai fand ebenfalls statt. Dies war ein wichtiger Wendepunkt des Krieges, da der Vietcong aufgrund grausamer Aktionen Sympathien verloren und die USA die Unterstützung ihrer Landsleute, was zu einer restriktiveren Politik führte. In den 1970er Jahren zog Präsident Richard Nixon im Rahmen der Vietnamisierungspolitik die Truppen ab, und die Hauptverantwortung für den Kampf ging auf die südvietnamesischen Truppen über. Die Südvietnamesen waren jedoch nicht in der Lage, den Vietcong ohne Luftunterstützung durch die USA zu bekämpfen. Aus diesem Grund ordnete Präsident Nixon Luftangriffe auf die Nachschubstützpunkte des Vietcong im neutralen Kambodscha und in Laos an. Diese Aktionen verstärkten die Antikriegshaltung der amerikanischen Bevölkerung immens. 1973 wurde der Konflikt durch diplomatische Bemühungen gelöst und mit dem Pariser Friedensvertrag beigelegt. Alle Streitkräfte der USA wurden aus Vietnam abgezogen. Mit dem Fall von Saigon im Jahr 1975 endete der Zweite Indochinakrieg. Nach der Kapitulation Südvietnams wurde das Land als »Sozialistische Republik Vietnam« wiedervereinigt. Zwischen einer und zwei Millionen Vietnamesen und 58.000 amerikanische Soldaten verloren in diesem Konflikt ihr Leben.
»Kein Vovinam-Schüler, kein vietnamesischer Patriot2«
Etwa acht Jahre vor dem Ersten Indochinakrieg schuf ein junger 26-jähriger Nordvietnamese eine Kampfkunst als nationalistische Antwort auf das politische Klima der kolonialen Unterdrückung durch die Franzosen. Nguyen Loc (1912-1960), der Begründer von Vovinam (auch als Viet Vo Dao bezeichnet), entwickelte seinen Kampfstil mit dem Schwerpunkt auf der nationalen Identität zur Befreiung Vietnams von den französischen Kolonialherren. 1940 wurde Nguyen eingeladen, Vovinam an der pädagogischen Hochschule von Hanoi zu unterrichten. Die Tatsache, dass Vovinam ein Vehikel für den Nationalismus war, in Verbindung mit der fortschreitenden Organisation des Widerstands durch Ho Chi Minh, der die Vietminh und (kommunistische) Rebellionen gründete, unterdrückten die französischen und japanischen Machthaber die moderne Kampfkunst. Im Jahr 1946, als sich Vietnam offiziell im Krieg mit Frankreich befand, war Vovinam Teil der militärischen Ausbildung von Dorfmilizen. Als Vietnam 1954 etwa am 17. Breitengrad geteilt wurde, wanderte Nguyen in den südlichen und nationalistischen Teil des Landes aus und begann, seine Kunst in Saigon zu unterrichten. Vovinam wurde zu einem Gegenstand der Kadettenausbildung für Militär und Polizei. Nguyen starb 1960 an einer Krankheit und war deshalb nicht an den bevorstehenden Kriegshandlungen beteiligt. Nach dem Fall von Saigon 1975 flohen andere Lehrer aus dem wiedervereinigten, aber kommunistischen Vietnam nach Europa und in die USA, wo sie Viet Vo Dao unterrichteten, allerdings nun ohne jede politische Konnotation.
Stile und Techniken des Vovinam
Das vielseitige System ist eine moderne Kombination traditioneller vietnamesischer Kampfkünste mit Einflüssen aus dem chinesischen Wushu, japanischem Judo und Karate, koreanischem Taekwondo und Ringkampfsystemen. Die Techniken werden meist linear ausgeführt, vergleichbar mit Karate, aber mit mehr Weichheit und Flexibilität. Zweifellos hat Nguyen Vovinam entwickelt, um eine effiziente und praktische Selbstverteidigung anzubieten, die in wenigen Monaten, erlernt werden kann. Durch die Förderung des Verständnisses der vermittelten Lektionen sollten die Schüler in die Lage versetzt werden, ihr erworbenes Wissen im Bedarfsfall sofort anzuwenden. Im Sinne der Verständlichkeit legte der Gründer weniger Wert auf mehrdeutige oder verschleierte Techniken. Der Lehrplan enthielt zehn Übungen pro Klasse (insgesamt 17), die zur Verteidigung und zum Angriff geübt wurden. Sobald die Schüler die Übungen verstanden hatten, wurden sie mit den praktischen Formen kombiniert. Ab den 1940er Jahren konzentrierte sich das Training auf Ausdauer, Schnelligkeit und Kraft. Die charakteristischen Bewegungen des Vovinam sind vor allem hochfliegende Beintechniken, die als Fußtritte und Takedowns (Grifftechniken mit den Beinen) eingesetzt werden. Diese gefährlichen »fliegenden Scheren«-Techniken wurden traditionell dazu verwendet, dass Soldaten reitende Gegner angreifen konnten, um sie zu Fall zu bringen3. Das System kennt 21 Bein-Greiftechniken (Don Chan). Um sich nicht zu verletzen, müssen die Schüler lernen, wie sie nach der Anwendung angemessen landen können. Der Stil umfasst auch Armtechniken wie Schläge, Hiebe, Schnitte, Haken, mit den Fingerspitzen, Fäusten, Händen, Handgelenken und Ellbogen und andere Beintechniken wie Tritte, die mit den Fußsohlen, Fußspannen oder Fersen ausgeführt werden. Zu den Verteidigungstechniken gehören Ducken, Blocken und Parieren sowie Fallstrategien. Hebelgriffe und Exartikulationstechniken sowie Wurftechniken und Ringen sind weitere Elemente der waffenlosen Techniken des Vovinam. Der Stil trainiert den Gebrauch von Waffen wie der traditionellen vietnamesischen Lanze, dem Schwert und dem Säbel.
Strategien und Taktiken
Die Recherche über die Anwendung des Vovinam durch Soldaten, Milizen und die Öffentlichkeit in den Indochinakriegen brachte nur wenig Informationen über diese spezifischen Elemente der Kriegsführung. Über die Integration von Vovinam (und Taekwondo) in die Lehrpläne der kämpfenden Streitkräfte liegen nur spärliche Informationen vor. Da Vovinam jedoch als Element des physischen Widerstands konzipiert war und in gewisser Weise den Nationalismus förderte, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass diese Kampfkunst im Kampf eingesetzt wurde. Es darf spekuliert werden, dass der Revolutionsführer Ho Chi Minh einige Kenntnisse in der Kampfkunst besaß, wie Propagandamaterial4 zeigt. Eine Militärdokumentation beschreibt zudem, wie Kommandosoldaten der Armee der Republik Vietnam unter der Aufsicht eines koreanischen Ausbilders Taekwondo trainieren5. Die Hauptkriegsstrategie des Vietcong war der Guerillakrieg, der mit wenig Ressourcen und Waffen von geringerer Qualität und Quantität geführt wurde. Es ist zu vermuten, dass die Kenntnis der Kampfkünste eine elementare Fähigkeit und ein wesentlicher Bestandteil jeder Überlebensstrategie im Kampf war.
Vom Krieg zum Frieden
Vovinam erfüllt die Anforderungen an eine militärische Kampfkunst. Ihr Zweck wird aus ihrer Gründungsgeschichte erklärt. Das stärkste Element des Vovinam war jedoch die klare nationalistische Aussage des Gründers, der Praktizierenden und der Funktionäre der Kunst, die sicherlich zur Stärkung des Selbstbewusstseins und der Identität der vietnamesischen Bevölkerung beitrug. Vovinam war nach Tran »ein Werkzeug für das vietnamesische Volk in seinem Befreiungskampf«. Die Moral und der Wille zur Veränderung unterstützten die rebellischen Truppen des Vietcong. Nach Green »scheinen die symbolischen Funktionen der Kampfkünste in politischen Konflikten eine kulturübergreifende Strategie zu sein«. Vovinam ist dafür ein sehr eindrucksvolles Beispiel, ebenso aber auch für den Übergang der Kunst zu einer zivilen Form in Zeiten der Migration und des Friedens. Vom nationalistischen Ansatz des Gründers und einer »vietnamesischen Kampfkunst« (Viet Vo Do) änderte Großmeister Le Sang das Motto zu einer »Kampfkunst im Dienste der Menschheit« (Nhan Vo Do). Er interpretierte die Schlüsselphilosophie des Vovinam als »die Menschheit als Zweck, den Charakter als Ziel und den unbesiegbaren Willen als Mittel« und richtete den Fokus vom hauptsächlich äußeren kämpferischen Aspekt auf den individuellen Kampf zur Selbstverbesserung.
Quellen
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Footnotes
- Die »Liga für die Unabhängigkeit Vietnams« war eine Vereinigung aus nationalistischen und kommunistischen Gruppierungen, die sich 1941 mit dem Ziel der Unabhängigkeit Vietnams zusammenschlossen. ↩
- Ein Slogan, der für die Förderung der Vovinam-Kampfkunst in Vietnam verwendet wird. Die nationalistische Konnotation unterstreicht die Absicht, die nationale Identität zu stärken. ↩
- Diese Erklärung scheint ein wenig übertrieben zu sein, auch wenn die Don Chans sehr beeindruckend sind. Als Reiter bezweifle ich die Effizienz dieser Technik, wenn sie nicht auf ein (kleineres) Pferd angewendet wird, das stillsteht und dessen Reiter nicht aufpasst. Beides sind eher seltene Gelegenheiten auf dem Schlachtfeld. ↩
- https://www.youtube.com/watch?v=9Z2oIHrNrM0. ↩
- https://www.criticalpast.com/video/65675021706_Vietnamese-Special-Forces_Tae-Kwon-Do-lesson_trainees-observe_Korean-instructors ↩