Siegen lernen, leben lehren: Kampfkunst als humanistisches Projekt
In diesem Aufsatz wird untersucht, wie sich die Rolle und Bedeutung der Kampfkünste je nach gesellschaftlichem Kontext zwischen Krieg und Frieden wandeln. Am Beispiel Japans wird deutlich, wie sich aus kriegerischen Techniken ritualisierte, pädagogisch geprägte Disziplinen entwickelten. Besonders Jigoro Kano prägte diesen Wandel, indem er Judo als körperlich-geistige Erziehungsform im Bildungssystem etablierte. Mit der Ausbreitung nach Amerika und Europa rückten jedoch sportliche Aspekte zunehmend in den Vordergrund. Traditionelle Werte wurden dabei oft vernachlässigt oder durch Show-Elemente ersetzt. Der Text diskutiert kritisch die kulturelle Verschiebung von Kampfkunst zu Kampfsport. Zudem wird die Rolle von Pädagogik und kultureller Bildung bei der Vermittlung dieser Künste reflektiert. Ein interkulturelles Bewusstsein wird als Schlüssel für verantwortungsvolle Lehre identifiziert. Die Kampfkünste werden als Spiegel gesellschaftlicher Werte und als Mittel der Persönlichkeitsentwicklung verstanden.
Autor*in: Albrecht Urs-Vito
Jahr: 2025
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Die Kampfkünste sind eine kulturelle Errungenschaft und omnipräsent. Ihre Wahrnehmung, Anwendung und Repräsentation ändert sich allerdings abhängig davon, ob sich die betreffende Gesellschaft in Kriegs- oder Friedenszeiten befindet. Die verheerenden Auswirkungen des Krieges auf die Gesellschaft können täglich weltweit beobachtet werden. Im Vergleich zu friedlichen Zeiten wird allerdings erst das jeweilige Ausmaß deutlich. In Kriegssituationen ergeben sich die existenziellen Antworten auf Leben und Tod unmittelbar und individuell. In Friedensperioden handelt es sich eher um abstrakte, ferne Gedankenkonstrukte. Der gesellschaftliche Umgang mit den Kampfkünsten zeigt hier Parallelen. In Kriegszeiten steht der wehrhafte Aspekt im Vordergrund, in Friedenszeiten das Spektakel, der Wettkampf und die Selbstoptimierung. Die Bedrohlichkeit der Kampfkünste in Kriegszeiten, in denen Anwendung von körperlicher Gewalt unweigerlich dazugehört, wird in Friedenszeiten sublimiert. Am Beispiel Japans lassen sich die verschiedenen Epochen mit wechselnden Schwerpunkten in Kultur und Krieg in den Kampfkünsten hervorragend veranschaulichen. Hier wird auch eine weitere kulturelle Verflechtung deutlich, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist: die Interaktion und wechselseitige Beeinflussung der Kampfkünste und Bildungssysteme. Diese Wechselwirkung leistete (und leistet noch) einen wesentlichen Beitrag dazu, dass Kampfkünste ihre Daseinsberechtigung in Friedenszeiten pflegen können. Denn im Frieden treffen Kämpfer, Kampfhandlungen und exzessive Gewalt auf wenig Akzeptanz. In einem der folgenden Abschnitte wird zunächst der Einfluss des Bildungssystems auf die Kampfkünste in Japan aufgezeigt. Danach wird erörtert, wie die japanischen Kampfkünste über den Bildungsweg nach Amerika importiert wurden. Es folgt eine Darstellung der Einbettung der Kampfkünste in das amerikanische Bildungssystem und eine kritische Reflexion darüber, inwieweit es zu einer weiteren Verschiebung der Kampfkunstinterpretation von wertebasierten Kampfkünsten hin zu Wettbewerb und brutaler Show kam. Abschließend werden östliche (konfuzianische) und westliche Konzepte und Lerntheorien diskutiert.
Japanische Kampfkünste zu Zeiten von Krieg und Frieden
Historisch gesehen waren die Samurai effiziente und hoch qualifizierte Kampfexperten, die sich auf den japanischen Schlachtfeldern bewährten. Ihre Ausbildung begann bereits im Kindesalter, und sie lernten schon früh den Umgang mit verschiedenen Waffenarten, wie Speer, Schwert und Bogen. Ab dem 16. Jahrhundert wurde das Waffenarsenal auch durch Feuerwaffen ergänzt. Beeindruckend war auch die Präzision, mit der sie diese Waffen beim Reiten einsetzen konnten. Grifftechniken (jpn. »Jujutsu«) wurden beispielsweise als weitere Methode im Nahkampf eingesetzt, wenn es darum ging, sich Verdienste zu erwerben. Das Abtrennen der Köpfe von den Körpern der Feinde (während sie noch lebten), im Sinne von »Verdrehen und Abschneiden» (jpn. »Kubinejikiru«), gehörte ebenfalls zu den verwendeten Techniken. Darüber hinaus war zum Selbstschutz auch die Kenntnis der richtigen Falltechniken wichtig, um Verletzungen beim Sturz vom Pferd oder auch im Bodenkampf zu vermeiden. Da die Kämpfer durch ihre Rüstung etwas eingeengt waren, war es für die Samurai sinnvoller, im Nahkampf verschiedene Grifftechniken wie Würgegriffe, Ausnutzung von Hebelwirkungen oder Würfe anstelle von Tritten und Schlägen einzusetzen. Ersteres hätte aufgrund der eingeschränkten Beweglichkeit des Kämpfers deutlich weniger Schaden angerichtet, als dies bei den oben genannten Grifftechniken der Fall gewesen wäre. Als das Tokugawa-Shogunat im frühen 17. Jahrhundert errichtet wurde, waren die Jahrhunderte der innerstaatlichen Kriegsführung endgültig vorbei. Viele Jahrhunderte lang waren die Shogune dafür verantwortlich, Japan im Namen des Kaisers zu regieren und für Stabilität zu sorgen. Solange Frieden herrschte, gab es für die Samurai-Krieger wenig Gelegenheit, sich durch kriegerische Taten hervorzutun. Sie mussten sich in dieser Zeit eher mit höfischen Ritualen, Buchhaltung und Verwaltungsaufgaben beschäftigen oder verbrachten ihre Zeit sogar mit verschiedenen Spielen. Dieser Wandel spiegelt sich auch in der veränderten Terminologie wider, die sich herausgebildet hat. Sprachlich trat der Begriff »Kampfkunst« (jpn. »Bujutsu«) in den Hintergrund, und es wurde mehr Wert auf den »Weg des Kriegers« (jpn. »Bushido«) gelegt. In gewisser Weise fand ein Übergang von einem kriegerischen Handwerk zur (fast ausschließlich) ritualisierten Anwendung der traditionellen Techniken der Samurai statt.
Trotz seiner selbst auferlegten Isolation konnte Japan den Kontakt mit der Außenwelt nicht vollständig verhindern. Im Zuge der Veränderungen, die mit der Meiji-Restauration einhergingen und 1868 ihren Höhepunkt erreichten, verloren die Samurai und Shogune einen Großteil ihres Einflusses und der Kaiser gewann nach einem Bürgerkrieg die Kontrolle über das japanische Volk zurück. Nach ein paar weiteren Jahren, als 1873 die nationale Armee gegründet wurde, traten die Samurai noch weiter in den Hintergrund und verschwanden fast von der politischen Bühne. Sie verloren ihren militärischen Status und mussten sich wohl oder übel in die Gesellschaft integrieren. Als 1876 Schwerter verboten wurden und die Auswirkungen des Satsuma-Aufstands von 1877 die Möglichkeiten des Waffenbesitzes und -gebrauchs weiter einschränkten, wurde dem Jujutsu als Kampfkunst der leeren Hand neues Leben eingehaucht. Da die Shogune nicht in der Lage waren, mit dem Zeitgeist Schritt zu halten, konnten sie den Einfluss kultureller Elemente aus dem westlichen Kulturkreis (insbesondere aus Europa und Amerika) auch nicht verhindern. Ein Beispiel für die Auswirkungen eines solchen Einflusses war das Werk von Jigoro Kano (1860-1938). Er gehörte der japanischen Oberschicht an und war hochgebildet, sprach unter anderem Deutsch und Englisch. Er hatte großen Einfluss auf das Jujutsu und half, es an die moderne Zeit anzupassen. Nach seinem Vorbild wurden auch andere altehrwürdige (»altmodische«) Kampfkünste (jpn. »Kobudo«) für die neue Zeit fit gemacht. Am Beispiel des Judos zeigte er vornehmlich, wie die Anwendung einer Kombination aus pädagogischem und kampfsportlichem Wissen, gepaart mit politischem Gespür und dem Aufgreifen des Zeitgeistes, zu einer erfolgreichen Transformation der jeweiligen Kampfkunst beitragen kann.
Judo und das japanische Bildungssystem
Die Lernstrategie, die Kano entwickelte, beruhte weniger auf der einfachen Nachahmung von Lehrern oder dem Auswendiglernen von Inhalten und Techniken, sondern vielmehr auf analytischen Elementen und der Förderung des Verständnisses. Er nutzte mögliche Fehler und Schwächen seiner (vermeintlich) überlegenen Lehrer aus und adaptierte aus anderen (westlichen) Kampfkünsten entlehnte Strategien, um diese Lehrer zu besiegen. Er erwarb sein Wissen aus drei verschiedenen Kampfschulen, und außerdem hinterließen ihm einige seiner früheren Meister wertvolle Schriftrollen. Basierend auf all diesen Grundlagen und unter Hinzufügung von Techniken aus dem Ringen schuf er Judo als einen sportlichen Ableger des Jujutsu. Für Kano hatten diese Veränderungen das Ziel, die Vermittlung von körperlichen, moralischen und geistigen Tugenden zu stärken. Sowohl in der japanischen Gesellschaft als auch bei Kano selbst stieg die Bereitschaft, westliche Ideen und (Kampf-)Techniken zu akzeptieren und in die eigenen Kampfkunstsysteme zu integrieren. Ein Beispiel dafür ist die Schaffung eines Rangsystems, das Kano mit dem Ziel einführte, fortgeschrittene Schüler leichter von Anfängern unterscheiden zu können. Überdies führte er weiße Trainingsuniformen (jpn. »Dogi«) ein, um soziale Unterschiede innerhalb seiner Schülerschaft zumindest optisch auszugleichen. Dadurch, dass Judo nicht mehr an ein bestimmtes Werte- oder Glaubenssystem gebunden war, war Kanos Judo viel flexibler und wurde sowohl national (innerhalb Japans) als auch international leichter akzeptiert. Kanos unbestreitbare Fähigkeiten in den Kampfkünsten erklären den Siegeszug des Judos jedoch nur zum Teil. Vielmehr gelang es ihm auch, seine Philosophie zu vermitteln und eine neue Generation von Lehrern für das Judo zu inspirieren und damit die Zukunft dieser Kampfkunst zu sichern. Dies beruhte nicht nur auf seiner guten Vernetzung im Bildungsbereich, seiner Erfahrung in der Praxis sowie seinem politischen Gespür. Er legte auch großen Wert darauf, die »körperliche Erziehung« des Judos einerseits mit dem Wettkampfgedanken, aber insbesondere auch mit der »persönlichen Kultivierung« zu verbinden. Um die Jahrhundertwende bekleidete er das Amt des Direktors für Grundschulbildung im Bildungsministerium. In dieser Funktion spielte er eine Schlüsselrolle bei der Aufnahme von Judo und Kendo in den nationalen Lehrplan der öffentlichen Schulen in Japan. Ab 1908 waren die Schüler gesetzlich verpflichtet, am Judo- oder Kendo-Unterricht teilzunehmen, und zusätzlich wurde Bujutsu (von Nishikubo Hiromichi in Judo umbenannt) als Wahlfach für Mittelschüler eingeführt. Mit der zunehmenden Militarisierung der Regierung und den häufigeren internationalen Konflikten in dieser Zeit wurde Budo bald zu einem obligatorischen Schulfach. Darüber hinaus wurden der Umgang mit dem Bajonett und die Ausbildung an Schusswaffen in den Lehrplan aufgenommen, um die praktischen Kampffähigkeiten der Schüler zu verbessern.
Nach dem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen des Zweiten Weltkriegs musste das Budo rehabilitiert werden. Während die Betonung der kämpferischen Aspekte zuvor wünschenswert gewesen war, schien diese besondere Betonung nun unvereinbar mit den demokratischen Prinzipien, die im Rahmen des gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozesses umgesetzt wurden. Dies führte zur Einführung strenger Regeln, z. B. hinsichtlich der Punktevergabe und der Zeitbegrenzung. Pädagogische Aspekte wurden zunehmend in den Vordergrund gestellt, und Budo wurde ab der Mittelstufe in den Lehrplan der Schulen integriert. Auch gesellschaftlich und wirtschaftlich vollzog sich ein deutlicher Wandel. Die ehemals stark landwirtschaftlich geprägten Strukturen wichen zunehmend industriellen Strukturen, was auch zu einer Verschiebung der Bevölkerung vom ländlichen in den städtischen Raum führte. Diese Veränderungen bewirkten auch ein zunehmendes Interesse am Budo und eine Akademisierung der Kampfkünste. Dies gipfelte in der Gründung des Wissenschaftlichen Budo-Forschungszentrums sowie der Internationalen Budo-Universität (jpn. »Kokusai Budo Daigaku«). Auch das internationale Interesse nahm zu, was sich in der Gründung verschiedener internationaler Budo-Verbände niederschlug. Um die Kontrolle über die Budo-Inhalte und -Konzepte auf internationaler Ebene aufrechtzuerhalten und Fehlinterpretationen zu vermeiden, wurde außerdem das International Seminar of Budo Culture gegründet.
Ankunft der Kampfkünste in den Vereinigten Staaten
Im Jahr 1879 besuchte US-Präsident Ulysses S. Grant Japan. Kano gehörte einem Team von Jujutsu-Kämpfern an, die vor dem amerikanischen Präsidenten auftraten. Es war jedoch ein anderer Präsident, der dazu beitrug, dass Judo in Nordamerika eingeführt und willkommen geheißen wurde: Theodore Roosevelt lud Kanos Meisterschüler Yamashita Yoshiaki ein, einen Kurs im Weißen Haus zu geben. Außerdem unterrichtete Yamashita seine Kunst seit 1905 auch an der Marineakademie. Ein weiterer Schüler Kanos, Maeda Mitsuyo, begann 1906 an der renommierten Princeton University zu unterrichten. Es sollte jedoch noch 40 Jahre und zwei Weltkriege dauern, bis die japanischen Kampfkünste in den USA aufblühen konnten. Nach der Kapitulation Japans 1945 und der amerikanischen Besatzung kamen viele Soldaten mit Judo und Karate in Berührung und brachten sie in ihr Heimatland mit. In den 1950er Jahren wurden die Kampfkünste auch außerhalb der Kasernen immer beliebter und für eine breitere Öffentlichkeit interessant. Prominente Frauen, wie June Tegner1 und die Kämpferinnen Rena »Rusty« Glicksman2 und Sarah Mayer3, machten die Fitness- und Kampfsportaspekte des Judos populär, was den Sport für die Öffentlichkeit attraktiv machte.
Kampfsportarten und US-amerikanisches Bildungssystem
Im Jahr 1964 wurde Judo zu einer olympischen Disziplin, was dazu führte, dass Kampfsportarten (insbesondere Judo, aber auch Taekwondo, das bald darauf folgte) in die (meisten) Sportunterrichtsprogramme aufgenommen wurden, insbesondere auf College- und Universitätsebene. Der sportliche Aspekt stand dabei im Vordergrund, denn, so Crocket sei »es schwierig genug, Sportlehrer zu finden, die in der Lage sind, die Künste zu unterrichten, ganz zu schweigen von der kulturellen Kompetenz, ihre philosophischen Dimensionen zu vermitteln.« Der oben beschriebene sportliche Ansatz für die Kampfkünste war nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Ab Mitte der 1980er Jahre analysierten Theeboom und De Knop ausführlich die Integration verschiedener Kampfsportarten in den Sportunterricht in Europa. Die Autoren unterschieden auch zwischen »traditionellen», »effizienten« (Selbstverteidigung) und »sportlichen« Aspekten der Kampfkünste. Ihrer Ansicht nach eignet sich der »sportliche Ansatz« der Kampfkünste besonders gut für den Sportunterricht, da er eine breitere Perspektive der Kampfkunstpraxis bietet. Die Autoren argumentieren, dass westliche Jugendliche aufgrund deutlicher kultureller Unterschiede Schwierigkeiten haben, die zugrunde liegenden Prinzipien des traditionellen Ansatzes vollständig zu verstehen. In einigen Fällen gibt es erhebliche Unterschiede zwischen der Art und Weise, wie Kampfkünste in ihren jeweiligen Herkunftsländern oder im (westlichen) Ausland praktiziert werden. Bereits in den 1980er Jahren zeigten Back und Kim entsprechende Unterschiede für Taekwondo, wie es in den Vereinigten Staaten im Vergleich zu Korea praktiziert wird. Während sie für rituelle und esoterische Belange kaum Unterschiede feststellten, sahen sie für die Vereinigten Staaten eine stärkere Betonung der Wettkampfaspekte dieser Kampfsportart. Sie vermuteten, dass dies auf die Unterschiede im kulturellen Hintergrund zurückzuführen ist. Amerikaner hatten weniger Interesse an traditionellen Elementen als Koreaner, was jedoch für traditionsbewusste Vertreter dieser Kampfkunst problematisch war. In diesem Zusammenhang gehen Back und Kim der Frage nach, wie eine (Weiter-)Entwicklung der Kampfkünste am besten gelingen kann. Dazu thematisieren sie u. a. die Widersprüche zwischen (altehrwürdigen) Traditionen und unausweichlichem Wandel. Ebenso diskutieren sie die Unterschiede zwischen formellem und freiem Training und die Divergenz zwischen kurzfristig erreichten Befriedigungen und dem, was dauerhaft erreicht werden kann. Sie nennen auch mehrere Kriterien, die eine solche Anpassung der Kampfkünste beeinflussen können. An erster Stelle wird hier ein mangelnder Einblick in die kulturellen Ursprünge der jeweiligen Kampfkunst genannt, der sich möglicherweise auf die Kampffähigkeit auswirkt. Als weiteren Faktor sehen sie den unterschiedlichen Grad der Fokussierung auf den Begriff »Kunst« als solchen. Ebenso nennen sie Faktoren, die die geistige Entwicklung beeinflussen. Schließlich stellen sie fest, dass gerade die traditionellen und etablierten Elemente einer Kampfkunst deren Identität prägen. Eine Erklärung für den Ansatz von Back und Kim ist ihre Unterscheidung zwischen der Beherrschung der notwendigen Kampftechniken und der »Kunst« als solcher. Ihrer Meinung nach ist der technische Aspekt kein wirklicher Teil der Kampfkunst. Erst durch die geistigen Aspekte, die sich von den weltlichen Abläufen abheben, wird die Kampfkunst dem Begriff »Kunst» gerecht. Diesem Gedanken folgend, diskutieren Rosenberg und Sapochnik die Dichotomie zwischen Suchen und Nicht-Suchen von Antworten sowie Wissen und Unwissenheit. Einerseits schreiben sie meditativen Elementen oder solchen zur spirituellen Entwicklung Alleinstellungsmerkmale zu und sehen sie als Teil der Tradition, sagen aber auch, dass dies dennoch die Kampffähigkeit fördern kann. Ihrer Aussage nach trifft es aber auch zu, dass »der Wunsch nach Kampfkompetenz in den Wunsch nach Kompetenz in einer Kunstform umgewandelt und sublimiert werden kann«. Ohne die Berücksichtigung der oben genannten kulturellen und kunstbezogenen Aspekte in Verbindung mit der geistigen Entwicklung wird dies jedoch nicht gelingen. Theeboom und De Knoop haben auch argumentiert, dass die Entwicklung von pädagogisch fundierten Unterrichtsstrategien notwendig ist. Es scheint, dass sich in diesem Bereich seinerzeit nicht viel getan hat. Um die 2000er Jahre war die Debatte noch offen, ob Kampfsportarten im Sportunterricht unterrichtet werden sollten. Laut Crockett diskutierte die Gemeinschaft, dass »asiatische Kampfkünste […] weder Teamwork lehrten noch den 'Schulgeist' förderten. Darüber hinaus beanspruchten asiatische Kampfkunstlehrer Titel wie 'Meister', 'Sifu' und 'Sensei', sie unterrichteten eher vom Boden oder der Matte als von der Seitenlinie aus […]«. Die Diskussion ist insofern nachvollziehbar, als nicht nur der sportliche Ansatz vom traditionellen Denken nach Kano abweicht. Der »Coach« wird als Trainer betrachtet, der den Athleten antreibt und motiviert, sportliche Höchstleistungen zu erbringen, während der traditionelle Kampfkunstlehrer (nach dem Vorbild Kanos) seine Schüler umfassend in allen Aspekten der Kampfkunst unterrichtet, einschließlich Philosophie, Kunst (Kalligraphie, Poesie) und traditioneller medizinischer Aspekte. Crockett fasst es treffend wie folgt zusammen: »Trainer lehrten die Kunst des Gewinnens, aber Kampfkunstmeister lehrten die Kunst des Lebens«. Nicht nur in Amerika werden die Rolle der Kampfkünste und ihre Auswirkungen auf die Schüler kontrovers diskutiert. Skeptiker äußern insbesondere die Befürchtung, dass das Unterrichten von Kampfsportarten im Klassenzimmer zu einer höheren Gewaltbereitschaft unter Schülern führen könnte. Verschiedene Autoren, u. a. Cowart, argumentieren jedoch für positive Auswirkungen auf die Schüler: Diejenigen, die leicht zu Opfern werden, lernen sich zu verteidigen und sich zu behaupten, während potenzielle Täter zur Selbstbeherrschung erzogen werden. So heißt es beispielsweise, dass bei jugendlichen Straftätern die Rate der gewalttätigen Übergriffe durch die Bereitstellung von und die Teilnahme an traditionell ausgerichteten Kampfsportprogrammen in Grund- und weiterführenden Schulen zurückgehen kann, wenngleich es auch laut Trulson Hinweise darauf gibt, dass Kampfsportprogramme mit stärkerem Wettbewerbscharakter die Tendenz zu inakzeptablem Verhalten sogar noch verstärken können. Sicherlich hängt das Ergebnis in erster Linie davon ab, wie empfänglich die Rezipienten für die traditionellen Botschaften des Kampfsports sind, aber natürlich auch davon, ob und wie ihnen diese Inhalte vermittelt werden. Der Sportunterricht, der in hohem Maße Anleihen bei den Biowissenschaften gemacht hat, würde laut Crockett bei der Implementierung von Kampfsportarten in den Lehrplan besonders von den Erkenntnissen der Psychologie und der Sozialwissenschaften profitieren. Im Grunde genommen bieten die traditionellen Kampfkünste schon seit Kanos Zeiten diese wertebasierte Art des Unterrichts, aber leider wird dies oft nicht gewürdigt. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Situation in absehbarer Zeit wesentlich verbessern wird, vor allem wenn man bedenkt, dass der Schwerpunkt häufig auf dem Wettbewerb liegt. Der Hype um Mixed Martial Arts (MMA), Boxen und Realismus sowie Hyperrealismus in den Kampfkünsten verspricht in naher Zukunft keine Änderung des Zeitgeistes.
Reflexion
Crockett sieht in der Ausbildung eine Möglichkeit, diese Werteorientierung in den Kampfkünsten zu vermitteln. Er konstatiert: »Angesichts der Sportifizierung und Kommerzialisierung vieler Kampfkünste ist das College-Klassenzimmer vielleicht die letzte Hoffnung, um die traditionellen kulturellen und philosophischen Werte der Kampfkünste zu bewahren.« Dies ist ein verständlicher Gedanke, der auf Universitätsebene besonders gut zum Tragen kommt, da hier auch geisteswissenschaftliche Ressourcen zur Verfügung stehen. Mit einem interdisziplinären Ansatz und einer liberalen Haltung können die Konzepte von Kano und seinen Gesinnungsgenossen hier aufgegriffen werden und durchaus auf fruchtbaren Boden fallen. Wenn es so einfach wäre, hätte es eine entsprechende Überlegung im westlichen Bildungssystem schon längst gegeben. Doch es gibt offensichtliche Hindernisse, die dem im Wege stehen. Ryan und Louie werfen in ihrem sehr lesenswerten Aufsatz die grundsätzliche Frage auf, ob die Dichotomisierung von westlichen und östlichen (konfuzianischen) Konzepten in der Bildung gerechtfertigt ist. Diese Art der strikt gegensätzlichen Betrachtung von »tief« und »oberflächlich«, »gegensätzlich« und »harmonisch« sowie »unabhängig« und »abhängig« vereinfacht die komplexen kulturellen Systeme in einer Weise, dass »die jeweils wahrgenommenen Tugenden der beiden Systeme oft unkritisch gepriesen oder für zeitgenössische wirtschaftliche, politische oder soziale Agenden vereinnahmt werden«. Die Autoren empfehlen, von einer unreflektierten Übertragung dichotomer Konzepte auf ganze kulturelle Praktiken abzusehen, um Missverständnisse und eine unangemessene Lehre zu vermeiden. Dazu gehört sicherlich auch, die Bildung von Vorurteilen zu vermeiden oder zumindest dafür zu sorgen, dass diese nicht geschürt werden, was tiefer gehende Diskussionen nur unnötig verkomplizieren würde. Auch Kano war zu seiner Zeit sicherlich einer Dichotomie der Systeme ausgesetzt. Er bediente sich jedoch westlicher Konzepte und nutzte sie wahrscheinlich, um seine Auffassung von Bildung zu untermauern. Teile der heutigen Auffassung von »westlicher Bildung« sehen westliche Schüler als »selbstbewusste, unabhängige und kritische Denker« (siehe Ryan und Louie). Jeder, der im Bildungssystem tätig ist, insbesondere im Hochschulbereich, kann bestätigen, dass dies nicht der Normalzustand ist. Dennoch wird dieses Bild von den Einheimischen nur allzu gerne gepflegt und von den Ausländern als selbstverständlich vorausgesetzt. Das Gleiche gilt für Stereotype in Bezug auf das Studium asiatischer (vor allem chinesischer) Bildungssysteme, denen zufolge Studenten eine »chinesische Sozialisierungspraxis übernehmen würden, die das Teilen, die Zusammenarbeit und die Akzeptanz sozialer Verpflichtungen betont und Wettbewerb und Aggression weniger betont« (siehe Gina Curro). Ryan und Louie weisen darauf hin, dass es aufgrund der Komplexität des kulturellen Systems schwierig ist, solche Vereinfachungen zuzulassen. Darüber hinaus sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass sich die verschiedenen Systeme in einer Übergangsphase befinden, sei es in kultureller, wirtschaftlicher oder bildungspolitischer Hinsicht, und alle Bewertungen müssen vor diesem Hintergrund vorgenommen werden.
Schlussbemerkungen
Die Dichotomisierung, dass Trainer die Kunst des Gewinnens, aber Kampfkunstmeister die Kunst des Lebens lehren, sollte daher ebenfalls eingehend reflektiert werden, um nicht unbeabsichtigte gegenseitige Missverständnisse zu unterstützen und Barrieren weiter zu erhöhen. Zu diesem Zweck schlagen die Autoren Louie und Ryan vor, ein »metakulturelles Bewusstsein und die Bereitschaft zu praktizieren, auf die Lernbedürfnisse aller Schüler einzugehen, unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund«. Dies dürfte nicht nur das gegenseitige Verständnis, sondern auch die Lernerfahrung verbessern.
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Footnotes
- June Tegner wurde von Shozo Kuwashima vom Chicago Judo Club unterwiesen und hielt den 3. Dan. Sie wurde zu einer der wichtigsten Sprecherinnen des Judos für Frauen. In den 40er und 50er Jahren war sie in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften präsent, um für Judo zur Selbstverteidigung und für Gesundheit zu werben. ↩
- Rena “Rusty” Glicksman war eine jüdisch-amerikanische Judoexpertin, die aufgrund ihrer Pionierarbeit für das Frauen-Judo bei den Olympischen Spielen bekannt ist. Aufsehen erregte sie, als sie 1959 als Mann verkleidet eine Medaille bei einem YMCA-Judoturnier gewann und die Ehrung, nachdem sie sich zu erkennen gegeben hatte, zurückgeben musste. Sie war die erste Frau, die in der Männergruppe des Kodokan trainierte. ↩
- Sarah Mayer war eine britische Schauspielerin und Judoka. Sie war die erste nicht-japanische Frau, die den schwarzen Gürtel im Judo erlangte. ↩