Körper, Kultur, Kontrolle: Die Politisierung und Zivilisierung der Kampfkünste

In diesem Aufsatz wird untersucht, wie sich das gesellschaftliche Ansehen der Kampfkünste über die Geschichte hinweg gewandelt hat. Ausgangspunkt ist das Misstrauen gegenüber Kampfkünstlern, das sowohl auf Gewaltpotenzial als auch auf zwielichtige Ursprünge zurückgeht. Anhand historischer Beispiele – etwa der chinesischen Jingwu-Vereinigung und der Modernisierung des Judo durch Kano – werden erfolgreiche Rehabilitierungsstrategien aufgezeigt. Diese Konzepte führten zur gesellschaftlichen Anerkennung der Kampfkünste als Bildungs-, Freizeit- und Gesundheitspraxis. Der Wandel verlief in China durch Institutionalisierung und Nationalstärkung, in Japan durch pädagogische Neuausrichtung und Sportifizierung. Philosophie, Wissenschaft, Geschlechtergleichheit und Patriotismus wurden zu Schlüsselfaktoren für die gesellschaftliche Integration. Besonders die Einbindung in staatliche Bildungssysteme und Mediennutzung trugen zum Imagewechsel bei. Die Kampfkünste wandelten sich von Werkzeugen sozialer Kontrolle zu Symbolen nationaler Identität und individueller Kultivierung. Der Aufsatz stellt dar, wie diese Transformation zur heutigen gesellschaftlichen Akzeptanz beiträgt. Abschließend wird betont, dass kulturelle Reformen und politische Legitimation maßgeblich für das Überleben der Kampfkünste waren.

Philosophie der Kampfkünste

Autor*in: Albrecht Urs-Vito

DOI: 10.4119/unibi/3003649

Jahr: 2025

PDF:Herunterladen

Lizenz: CC BY-ND 4.0

In den vorangegangenen Aufsätzen wurden die Geschichte und Philosophie der Kampfkünste eingehend erörtert. Die Geschichte legt den Grundstein für das Verständnis der Ursprünge und des Wandels verschiedener Kampfkünste sowie für entmystifizierte Gründungsmythen und andere gängige Annahmen über das Erbe und ihre Abstammung. Der historische Hintergrund liefert den Kontext für die Entwicklung und die soziale Bewertung der Kampfkünste und bezieht historische, kulturelle, wirtschaftliche und politische Aspekte ein. Kulturellem und politischem Denken liegen bestimmte Philosophien zugrunde. Es existieren verschiedene theoretische Rahmen und Denkweisen, die das Verständnis und die Argumentation für die Entscheidungsprozesse der Akteure auf der historischen Bühne erklären können. Die gesellschaftliche Konnotation ist untrennbar mit dem historischen und philosophischen Kontext verbunden, da sie die zwischenmenschliche Dynamik veranschaulicht und erklärt, die zu den sozialen Strukturen geführt hat, wie wir sie heute kennen. In diesem Aufsatz werden die gesellschaftlichen Aspekte der Kampfkünste analysiert. Es wird gezeigt, dass es ein Misstrauen gegenüber den Kampfkünsten gab und gibt. Einige Gründe werden dafür diskutiert. Ferner werden Beispiele für erfolgreiche historische Strategien vorgestellt, die in China und Japan angewendet wurden. Es wird beschrieben, wie die negativen Konnotationen der Kampfkünste durch die Etablierung alternativer Konzepte überwunden wurden, was den wahrgenommenen Wert der Künste für die Gesellschaft auf positive Weise veränderte. In der Schlussfolgerung werden die wichtigsten Bestandteile eines Konzepts für eine erfolgreiche gesellschaftliche Akzeptanz zusammengefasst.

Gesundes Misstrauen?

In der heutigen Gesellschaft scheint es ein gewisses Misstrauen gegenüber Kampfsportlern zu geben, insbesondere gegenüber jenen, die kämpferische Stile (militärische Kampfkünste), Vollkontaktsportarten mit einer höheren Aggressivität wie MMA oder den Kampf mit bloßen Fäusten praktizieren. Die Gründe für dieses Misstrauen sind vielschichtig, aber eine Untersuchung dieses Misstrauens auf der Mikroebene kann wertvolle Hinweise auf die Gründe liefern, warum es Ressentiments gegen Kampfsportler gab und immer noch gibt (siehe z. B. Kusnierz, Cynarski, & Gorner). Eine vereinfachte Sicht stammt oftmals aus der Perspektive des Nicht-Kampfsportlers. Ein Individuum wird im Allgemeinen Gewalt vermeiden, da diese Energie verschwendet und mit ihr immer das Risiko verbunden ist, verletzt zu werden und sein Leben zu verlieren. Da jeder Mensch eine potenzielle Bedrohung für andere und auch ein Rivale im Wettbewerb um Ressourcen ist, gilt dies umso mehr für gut ausgebildete Kampfsportler, die ihre Kunst beherrschen und physische, technische und psychologische Fähigkeiten erworben haben. Je höher die Fertigkeiten einer Person sind, desto leichter wird es sein, einen Gegner zu überwältigen und dabei weniger Energie zu verbrauchen, vor allem aber auch das Risiko von Verletzungen oder eines tödlichen Ausgangs zu verringern. Diese Überlegenheit, die vielleicht nur in der Wahrnehmung des Gegners existiert, trägt zu dem – möglicherweise übertriebenen – Bild von der Stärke des Kampfsportlers bei. Körperliche Kraft wird häufig dazu benutzt, andere zu unterdrücken und zu kontrollieren. Es wundert daher nicht, dass diese Kraft meist zu diesem Zweck eingesetzt wird. Ein weiterer Misstrauensgrund gegenüber den Kampfkünsten ergibt sich mitunter auch aus der Bewertung des Umfelds, in dem die Kampfkünste entstanden sind oder mit dem sie in Verbindung gebracht werden. Es ist nicht verwunderlich, dass die Entwicklung von Kampffähigkeiten in Kriegszeiten, insbesondere beim Militär, bei Milizen und unter der Herrschaft von Kriegsherren, floriert. Solche Entwicklungen gedeihen auch in Bereichen, zu denen die Strafverfolgungsbehörden keinen oder nur einen geringen gesetzlichen Zugang haben, in den Schattenwelten der Kriminalität und ihren Schnittstellen zur bürgerlichen Welt (Vergnügungsviertel mit Glücksspiel, illegalen Kämpfen, Drogenhandel und Prostitution). Die Rekrutierung von Handlangern für das Militär und die Unterwelt ist in Regionen mit niedrigem Einkommensniveau und illegaler Migration einfacher. Die Zugehörigkeit zum Militär oder zu einer Bande sorgt für Stabilität, Einkommen und Aufstieg innerhalb der sozialen Struktur und Hierarchie und bietet damit die Chance, der Armut zu entkommen und eine Perspektive zu erhalten. Herbert veranschaulicht diesen scheinbar paradoxen stabilisierenden Einfluss der japanischen Yakuza auf die Gesellschaft in seinem Werk »Japan nach Sonnenuntergang«.

Vom Zwielicht zum Licht

Der vorangegangene Absatz klingt klischeehaft und wirkt wie eine perfekte Geschichte für Martial-Arts-Filmproduktionen, und das stimmt bis zu einem gewissen Grad natürlich auch. Judkins beleuchtet in seinem Essay »Social Distrust and the Chinese Martial Artist« auf seinem Blog »Kung Fu Tea« das Thema für Chinesen in den USA und China: Er beschreibt die Situation in den Chinatowns von New York und San Francisco sowie in Hongkong in den 1970er Jahren, wo Geheimgesellschaften wie die Triadenorganisationen lokale Nachbarschaften und die grassierende Jugendkriminalität ausnutzten. Hier boten Kampfsportler als Agenten der Schattenwelt verschiedene Dienste an, darunter die Bereitstellung von Sicherheit, das Eintreiben von Spielschulden und die Ausbildung von anderen Vollstreckern. Das Phänomen hat eine längere Tradition, denn Judkins stellte fest, dass viele Biografien von Kampfsportlern eine Beschäftigung als »Fixer« für »Umverteilungsorganisationen« aufweisen. Außerdem war das ländliche Banditentum im Festland Chinas während des schwierigen letzten Jahrhunderts der Qing-Herrschaft ein großes Problem. Judkins zitiert frühe westliche Beobachtungen über die Besatzung von Getreideschiffen, die den großen Kanal aus der Provinz Che-keang befuhren, die sich im Boxen und Knüppeln sowie im Gebrauch von Waffen übten, um sich gegen Banditen zu verteidigen. Dieselben Autoren bezweifeln einen Satz später den Aspekt der Selbstverteidigung, da sie argumentieren, dass die Beherrschung jeder Person, die ihren Willen vereitelt, der eigentliche Zweck zu sein scheint. Auch wenn sie nicht in einem kriminellen, sondern in einem zivilen Kontext angewandt werden, lässt dieser Aspekt die Kampfsportler in den Augen der normalen Bevölkerung nicht vertrauenswürdiger erscheinen: Die Qing-Herrscher heuerten sie als Steuereintreiber an, und Kampfkünstler wurden auch von Gewerkschaften beschäftigt, um die soziale Ordnung zu gewährleisten und eventuell auftretende Streitigkeiten zu schlichten. Außerdem wurden zahlreiche Kampfsportler von der Polizei und dem Militär rekrutiert. Die Bevölkerung hatte in den letzten Jahrhunderten ein zumindest zweideutiges Verhältnis zu diesen Kräften. Um ausgewogen zu argumentieren, sollte hier erwähnt werden, dass dieser Aspekt nicht nur für die untere Arbeiterklasse relevant war, sondern mit zunehmender (politischer, sozialer und wirtschaftlicher) Instabilität auch für die höheren Einkommensgruppen an Bedeutung gewann. In geringeren Zahlen erlernten Mitglieder wohlhabender Familien die Kampfkünste als starke Verbindungen zu martialischen Netzwerken, die helfen könnten, das Überleben des Familienvermögens zu sichern. Dieser Aspekt wird im nächsten Abschnitt relevant, da gut situierte und gut gebildete Kampfkünstler die Initiative ergriffen und erfolgreich versuchten, das Image der Kampfkünste und Kampfkünstler in China zu Zeiten der Republik zu verändern, was bis heute nachwirkt. Es waren mehrere wohlhabende und gut ausgebildete Männer, die die Grundlage für ein revolutionäres institutionelles Konzept für die Kampfkünste in China schufen, das unter dem Namen Jingwu1-Vereinigung (aktiv zwischen 1909 und 1926) bekannt wurde. Chen Gonghze, Chen Tiesheng, Lu Weichang und Chen Yingshi waren die vier maßgeblichen Persönlichkeiten für die Initiative und die Kampfkunstpraktiker (siehe ausführlich in Kennedy & Guo). Die meisten Protagonisten waren Hochschulabsolventen, einige sammelten Studienerfahrung im Ausland, und Gonghze, Weichang und Yingshu hatten einen geschäftlichen Hintergrund. Die beiden Erstgenannten (und Yao Chanbo) gelten als die wichtigsten finanziellen Unterstützer der Jingwu-Vereinigung, die dazu beitrugen, dass die Initiative auf mehr als 40 Niederlassungen in China und Ostasien anwuchs. Die Förderer Yingshi, Gonghze und Tiesheng waren politisch aktiv. Yingshi war ein Vertrauter von Sun Yat-Sen, und Gonghze bekleidete prominente Positionen in der Regierung. Tiesheng war ein bekannter Publizist für Kampfkünste und »sozialer Kommentator«, der in der »Neuen Kulturbewegung« aktiv war und der Jingwu-Vereinigung »ihre Rhetorik« lieferte.

Die Jingwu-Vereinigung

Die Bedeutung der Jingwu-Vereinigung für die chinesischen Kampfkünste und den gesellschaftlichen Wandel kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Jingwu-Vereinigung, die 1909 als privat organisierte Akademie gegründet wurde, unterrichtete chinesische Kampfkünste, bot aber auch verschiedene andere Sport- und Freizeitprogramme an. Jingwu unternahm konzertierte und systematische Anstrengungen, um andere Bereiche der chinesischen Gesellschaft davon zu überzeugen, dass die Ausübung der chinesischen Kampfkünste eine lohnende Freizeitbeschäftigung ist und der Unterstützung der Gesellschaft dient. Kennedy und Guo hoben vier Hauptaspekte des Ansatzes der Jingwu-Vereinigung hervor, die die alten Lehrpraktiken und die gesellschaftliche Einstellung zu den Kampfkünsten veränderten. Jingwu-Mitarbeiter unterrichteten chinesische Kampfkünste öffentlich und als Sport- oder Freizeitbeschäftigung2. Sie richteten auch gleichberechtigte Programme für Frauen ein und nutzten Medien (Bücher, Zeitschriften, Filme) für die Ausbildung. Die genannten Aspekte erscheinen aus heutiger Sicht trivial, waren jedoch ein Schlag ins Gesicht der chinesischen Traditionalisten, und die Jingwu-Vereinigung verfolgte die Mission, den »Jingwu-Geist« in ganz China und in der chinesischen Diaspora zu verbreiten. Judkins interpretiert diesen Geist als Stärkung der körperlichen Gesundheit und Verbesserung der Identifikation mit der chinesischen Tradition. Wie die Geschichte gezeigt hat, war der nationalistische Aspekt wichtig dafür, dass die aus dem Misstrauen in der Gemeinschaft entstandenen Beschränkungen zumindest teilweise zurückgenommen wurden. Für diejenigen, die mit der unruhigen chinesischen Geschichte und den oft störenden Folgen für das Volk vertraut sind, ist dies sicher nicht überraschend.

Historischer Kontext

In der folgenden Passage wird nur das 20. Jahrhundert betrachtet, da dieser Zeitrahmen die massiven (und schnellen) Veränderungen in der Praxis und Anerkennung der chinesischen Kampfkünste am besten veranschaulicht: Kennedy und Guo beschreiben vier historische Phasen, eine »dörflich-militärische Phase«, die »Phase der Jingwu-Vereinigung«, die anschließende »Guoshu-Phase der Nationalregierung« und schließlich die Phase, in der wir uns heute befinden, nämlich die »Wushu-Phase der Volksrepublik China«. Die Kampfkünste wurden bis 1900 hauptsächlich von Militärs oder Paramilitärs (Dorfmilizen) ausgeübt (auch bekannt als die »dörflich-militärische Phase«). Kriegsführung und Verteidigung waren der Hauptzweck dieses Handwerks in jener Zeit. Waffenpraktiken dominierten das technische Spektrum, die nicht öffentlich gelehrt wurden, da sie als Betriebsgeheimnis galten. Auch ein Freizeitaspekt war mit diesem Handwerk nicht verbunden (außer für die praktizierende Jugend). Diese Einstellung wurde mit der Gründung der Jingwu-Vereinigung im Jahr 1909 und dem Ende ihrer Tätigkeit im Jahr 1924 (auch bekannt als die »Jingwu Vereinigungsphase«) auf den Kopf gestellt. Aufgrund des offenen, gebührenpflichtigen Unterrichts und der Öffnung für Frauen sowie der Absicht, Kampfkünste als Freizeitbeschäftigung und körperliche Ertüchtigung zu unterrichten, änderte sich die Konnotation der Kampfkünste vollständig. Vormals Tätigkeiten, die ausschließlich für Militärs, Milizen und Leibwächter geeignet waren, wurden zu einer »Form der kulturellen Freizeitgestaltung«. Die Jingwu-Idee entwickelte sich mit Unterstützung des von der nationalistischen Regierung geförderten »Guoshu3-Projekts«, das zwischen 1927 und 1937 durchgeführt wurde, mit größerem Erfolg, wurde aber durch den chinesischen Bürgerkrieg oder die Warlord-Tyrannei beeinträchtigt. Der Staat übernahm das Jingwu-Konzept und passte es an nationale Interessen an, um ein nationales, standardisiertes Kampfkunstprogramm zu schaffen, das ein Instrument zur Förderung der Regierungspolitik sein sollte. Dieses Konzept wurde von der siegreichen kommunistischen Regierung nach ihrem Erfolg im chinesischen Bürgerkrieg (1911 bis 1949) weiterverfolgt, aber 1959 in »Nationales Wushu4-Programm« (auch bekannt als »Wushu-Phase der Volksrepublik China«) umbenannt. Die Regierung konzentrierte sich auf die Umwandlung der chinesischen Kampfkünste in einen Wettkampfsport auf hohem Niveau und entfernte die kampfrelevanten Aspekte. Kennedy und Guo beschreiben Wushu als »eine körperlich sehr anspruchsvolle Art von Volkstanz oder Bodenturnen mit Bewegungen, die von traditionellen chinesischen Kampfkunstsystemen abgeleitet sind«.

Sozialer Kontext

Die »Phase der Jingwu-Vereinigung« brachte die bedeutendsten Veränderungen. Die Entwicklung der Jingwu-Vereinigung wurde stark von der »Neuen Kulturbewegung« beeinflusst, die das »kulturelle Erbe Chinas« als das Hauptproblem identifizierte, das zum Scheitern der republikanischen Regierung (und auch der Qing-Dynastie) führte. Zwischen 1907 und 1923 waren chinesische Intellektuelle, zumeist Universitätsstudenten, die durch ein Studium im Ausland andere Kulturen kennengelernt hatten, in dieser Bewegung aktiv. Die Kulturrevolution galt als Antwort auf den Ausverkauf Chinas an das Ausland (hauptsächlich Japan). Korrupte chinesische Kriegsherren unterstützten das japanische Militär, welches das chinesische Festland besetzte. Das Vordringen der Japaner in China führte zu einer Stärkung der nationalistischen Identität. Die »Neue-Kultur-Bewegung« wandte sich gegen alte Kultur, alte Politik, japanische Industriegüter, alte Bildung und alte Formen der Literatur. Die Jingwu-Vereinigung machte sich die Kritik zu eigen und wollte die chinesischen Kampfkünste wieder aufbauen, um sie aus dem Reich des Aberglaubens und der erstarrten Tradition herauszuholen. Die Kampfkünste sind auch ein probates Mittel, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Die Jingwu-Vereinigung verstärkte das nationalistische Denken, indem sie in ihren Programmen verkündete, dass das chinesische Volk sich selbst stärken muss. Der ausländischen Unterdrückung sollte etwas entgegengesetzt und Patriotismus gefördert werden, um es den Kriegsherren unmöglich zu machen, ihren Verrat an China fortzusetzen. Laut Jingwus Interpretation ist der »neue chinesische Bürger5« stolz, gut ausgebildet, körperlich fit, moralisch aufrecht und in der Lage, sich körperlichen Herausforderungen zu stellen. Ganz im Sinne der neuen Kulturbewegung wurden die Schüler zum wissenschaftlichen Denken erzogen. Elemente und Ideen der westlichen Sportwissenschaft, Medizin und Ernährung wurden in die Argumentation der Kampfkünste integriert. Der traditionelle Aberglauben, der tödliche, übernatürliche (magische) Techniken beschrieb, wurde ersetzt. Ungesunde Praktiken und Techniken, die nicht wissenschaftlich begründet waren, wurden aus dem Programm entfernt. Der Lehrplan selbst wurde umgestaltet, um den Übergang von einem Bootcamp im militärischen Stil zu einer Freizeitaktivität der Mittelklasse zu schaffen. Um die Leistungen des Einzelnen hervorzuheben, wurde ein graduierungs- und zertifikatsbasiertes Rangsystem eingeführt (analog zum westlichen Bildungssystem). Im neuen, modernen, wissenschaftlichen China wurde die Ausbildung der Frauen mit der der Männer gleichgestellt. Das Kampfkunstprogramm von Jingwu bildete da keine Ausnahme, denn es enthielt für Männer und Frauen die gleichen Trainingselemente – ohne Kompromisse. Alle genannten Errungenschaften waren im Vergleich zu den traditionellen Bräuchen und der Gesellschaft revolutionär. Die Jingwu-Vereinigung war eine interdisziplinäre Institution, die Journalisten, Politiker, Geschäftsleute, Akademiker, Militärs und Frauenorganisationen als Säulen für ihre Bemühungen um die Bekanntheit und Verbreitung der chinesischen Kampfkünste ansah. Dieser Ansatz erwies sich als richtig und erfolgreich und half, die chinesischen Kampfkünste vor dem Aussterben zu bewahren.

Wandel in Japan

Früher als die Chinesen hatten die Japaner erkannt, dass die Vernachlässigung ausländischer (europäischer) Einflüsse zu einer Isolation führen würde, die wiederum das Land unweigerlich schwächen würde. Japan gab seine isolationistische Strategie auf und beugte sich der westlichen (militärischen) Macht, um eine nationale Krise zu vermeiden und die Risiken für seine Unabhängigkeit zu minimieren. Die Meiji-Restauration (von 1868 bis 1912) brachte einen Prozess der Säkularisierung und Verwestlichung der Gesellschaft mit sich, der zu einer neuen Haltung gegenüber den japanischen Kampfkünsten führte. Mit der Modernisierung wurden traditionelle kulturelle Aspekte für altmodisch erklärt. Die (traditionell führende) Kriegerklasse der Samurai fühlte sich durch das Schwertabschaffungsedikt von 1876 ihrer Schwerter (und ihrer Macht) beraubt, was 1877 zum Satsuma-Aufstand führte. Die Polizei besiegte die Rebellen mithilfe von Schwertern (da Schusswaffen nicht erlaubt waren), und die Kampfkünste wurden wieder als nützlich angesehen, Gekken6 und Jujutsu wurden wieder akzeptiert. Kampfkunstveranstaltungen in Gekken- und Jujutsu-Wettbewerben (Sportveranstaltungen) wurden als Treffpunkte für Anhänger der »Freiheits- und Volksrechtsbewegung7», einer Demokratie fordernden Partei, genutzt. Mit dem Industrialisierungs- und Modernisierungsprozess wurden in Japan standardisierte Lehrpläne, Ranglisten und Uniformen für die Kampfkünste eingeführt (siehe Johnson). Ein prominenter Meister und Pädagoge namens Jigoro Kano wandelte Jujutsu in Judo um, indem er die Brutalität dieser Kampfkunst überwand und eine neue Perspektive in Bezug auf Selbstentwicklung und gesellschaftlichen Fortschritt einbrachte. Er vertrat die Ansicht, dass »Schüler Judo nicht für den Wettkampf üben sollten, sondern vorzugsweise, um fähig zu werden, diese Kunst für das Erreichen höherer Ziele im Leben einzusetzen«. Er führte auch ein hierarchisches (Gürtel-)System und die Verwendung von Trainingsuniformen ein. Außerdem schrieb er die Nutzung von speziellen Trainingshallen vor. Mit dem Sieg der Japaner über die Chinesen und Russen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs der Nationalismus, was die Popularität des Budo deutlich erhöhte. Mit der Gründung der Dai-Nippon-Butokai, die bald mehr als hunderttausend Mitglieder zählte, begann die Institutionalisierung der Kampfkünste. Die Institution wurde mit dem Ziel gegründet, Bujutsu-Lehrer auszubilden und Standards für Jujutsu und Kenjutsu zu setzen. Ähnlich wie in den Kulturen der westlichen Welt wuchs auch hier das Interesse an der sportlichen Komponente. Nachdem Kano Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees geworden war, nutzte er die Gelegenheit, Budo in die Olympischen Spiele einzubringen. Darüber hinaus wurde Bujutsu in Japan als Wahlfach in den Lehrplan für Mittelschüler aufgenommen. Mit den zunehmenden Spannungen auf internationaler Ebene, aber auch aufgrund starker militaristischer Tendenzen in der Regierung, wurde der Status des Budo bald von einem Wahlfach zu einem Pflichtfach für alle Schüler. Treffsicherheit und Fechten mit Bajonetten wurden ebenfalls in den Lehrplan aufgenommen, um die Kriegsanstrengungen weiter zu verstärken.

Schlussbemerkungen

Die Beispiele Jingwu und Judo illustrieren gut den Wandel in der Wahrnehmung der Kampfkünste von einer bedrohlichen Methode der Unterdrückung von Mitmenschen bis hin zu einer akzeptierten, erholsamen und gesundheitsfördernden Aktivität sowie zu einem identitätsstiftenden nationalistischen Unterfangen. Die chinesischen Kampfkünste, zuvor von zwielichtigen Personen praktiziert, wurden nun von der Jingwu-Vereinigung institutionalisiert und zumeist von vertrauenswürdigen Personen aller Gesellschaftsschichten, Altersgruppen und Geschlechter zum Wohle dieser Personen und der Nation rehabilitiert. Der Ansatz wurde von den Praktizierenden, der Öffentlichkeit und der Regierung weitgehend akzeptiert, was bis heute zu nationalen Förderprogrammen führt. Bei den japanischen Kampfkünsten war der Modus operandi ein anderer, hatte aber ein weitgehend ähnliches gesellschaftliches Ergebnis. In Japan war es die furchterregende Kriegerkaste (jpn. »bushi«), die stark mit den Kampfkünsten in Verbindung gebracht wurde. Kano war in der Lage, eine Reihe von Kernelementen zu identifizieren, die das Potenzial hatten, das Ansehen der Kunst in der Gesellschaft und in Bezug auf die Wahrnehmung durch die damalige Regierung zu verbessern. Wie Johnson in Anlehnung an Krug und Madis feststellte, führte die »[…] Übernahme der Philosophie der japanischen Samurai-Traditionen, des militaristischen Rahmens des kaiserlichen Japans und die Übernahme der westlichen Sportifizierung« zu einer erfolgreichen Transformation. Kano nutzte die zunehmende Attraktivität von Wettkampfveranstaltungen in Japan sowie nationalistische Tendenzen, die durch mehrere Siege vor dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst worden waren. Er verstand Judo als eine Mischung aus Körperertüchtigung, Wettkampf und persönlicher Weiterentwicklung. Nach der Kapitulation Japans nach dem Zweiten Weltkrieg und der Etablierung demokratischer Werte wurden die Kampfkünste generell verboten. Durch die Betonung der sportlichen Aspekte erlebten die Kampfkünste jedoch ein erfolgreiches Comeback und trugen zum Selbstvertrauen und zum Nationalstolz bei. Johnson stellte fest, dass das »Markenzeichen der japanischen Modernisierungsprogramme darin bestand, Elemente aus den Traditionen der Kernsubkultur zu kombinieren und sie mit exogenen Fortschritten in Technologie und Organisation zu verbinden«. Dies trifft auch auf die chinesischen Kampfkünste zu. Dieses Zitat sollte um »Nationalismus« und »Identität« ergänzt werden, da diese Garanten für die Nachhaltigkeit darstellten. Ohne diese Aspekte wäre das Überleben der chinesischen und japanischen Kampfkünste in kritischen Phasen der Geschichte gefährdet gewesen, wohingegen sich die beschriebenen Konzepte als erfolgreich für die soziale Akzeptanz erwiesen haben und immer noch erwiesen und positiv zur Gesellschaft beitragen.

Quellen

Herbert, W. (2004). Japan nach Sonnenuntergang: unter Gangstern, Illegalen und Tagelöhnern (2.
Auflage). Reimer.

Johnson, N. C. G. (2012). The Japanization of Karate?: Placing an Intangible Cultural Practice. Journal of
Contemporary Anthropology, 3(1), 4.

Judkins, B. N. (2014, November 21). Social Distrust and the Chinese Martial Artist. Retrieved July 10, 2019,
from Kung Fu Tea website:
https://chinesemartialstudies.com/2014/11/21/social-distrust-and-the-chinese-martial-artist/

Kano, J., Kano, Y., & Naoki, M. (2013). Mind Over Muscle: Writings from the Founder of jūdō. Tokyo:
Kodansha International.

Kennedy, B., & Guo, E. (2010). Jingwu: The School that Transformed Kung Fu. Berkeley, CA: Blue Snake
Books.

Kusnierz, C., Cynarski, W. J., & Gorner, K. (2017). Social reception and understanding of combat sports
and martial arts by both school students and adults. 17(1), 30–37. https://doi.org/10.14589/ido.17.1.5

Kusnierz, C., Cynarski, W. J., & Litwiniuk, A. (2014). Comparison of aggressiveness levels in combat sports
and martial arts male athletes to non-practising peers. Archives of Budo, 10.

Matsuoka, K. (1995). Quickening of the people’s right movement. Journal of Atomi Gakuen Women’s
University, (28), 123–144. Retrieved from https://ci.nii.ac.jp/naid/110004645557/en/

Nagayama, K. (1997). The Connoisseur’s Book of Japanese Swords. Tokyo: Kodansha International.
Sánchez García, R., & Malcolm, D. (2010). Decivilizing, civilizing or informalizing? The international
development of Mixed Martial Arts. International Review for the Sociology of Sport, 45(1), 39–58.
https://doi.org/10.1177/1012690209352392

Shahar, M. (2012). Diamond Body: The Origins of Invulnerability in the Chinese Martial Arts. In L. Vivienne
(Ed.), Perfect Bodies: Sports Medicine and Immortality (pp. 119–128). London: British Museum.

Uozumi, Ti. 2010. “An Outline of Budō History.” In IBU Budo Series Volume 1: The History and Spirit of
Budo, 1–22. Katsuura: International Budo University.
https://www.budo-u.ac.jp/laboratory/ibu/pdf/Capter_1_An_Outline_of_Budo_History.pdf

The Missionary Herald. Volume XVII. (1820). Boston: Crocker and Brewster Printers.

Footnotes

  1. Jingwu bedeutet nach Kennedy und Guo wörtlich »die Essenz der Kampfkünste« oder »das ausgewählte Beste der Kampfkünste«.
  2. Die Jingwu-Vereinigung bot der Öffentlichkeit noch viel mehr an, wie andere sportliche Aktivitäten, geistige Aktivitäten wie Schach oder Englischunterricht, soziale Aktivitäten wie Wanderungen und Jagdausflüge.
  3. »Guoshu« bedeutet laut Kennedy und Guo »nationale Kunst«.
  4. »Wushu« bedeutet in einem allgemeineren Sinne »Kampfkunst«.
  5. Siehe Chiang Kai-Shek-Beilage zu Sun Yat-Sens »Drei Prinzipien des Volkes (San Min Chu I)«.
  6. Alte Bezeichnung der Fechtkunst
  7. Die Freiheits- und Volksrechtsbewegung »verfolgte die Bildung einer gewählten Legislative, die Revision der ungleichen Verträge mit den Vereinigten Staaten und europäischen Ländern, die Einführung von Bürgerrechten und die Reduzierung der zentralisierten Besteuerung« (siehe Matsuoka).