Im Schatten des Klosters, im Licht der Bühne: Die doppelte Herkunft des Wing Chun

In diesem Aufsatz wird das Wing Chun-Kampfsystem als pragmatische und effiziente Selbstverteidigungstechnik vorgestellt. Im Gegensatz zu anderen Stilen verzichtet Wing Chun bewusst auf ästhetische Formen zugunsten unmittelbarer Wirksamkeit. Seine Techniken sind für kurze Distanzen optimiert, schnell, direkt und auf engen Raum anwendbar. Die Gründungslegende um die Nonne Ng Mui und ihre Schülerin Wing Chun erfüllt vor allem identitätsstiftende Funktionen. Historisch fundierte Belege für diese Erzählungen sind jedoch kaum vorhanden. Neuere Forschungen deuten auf die kantonesische Oper und das „Rote Dschunke“-Ensemble als Ursprungsort hin. Dort wurden Techniken für Kämpfe auf engem Raum und in revolutionärem Kontext entwickelt. Wing Chun war möglicherweise auch Reaktion auf Piraterie und soziale Instabilität im südlichen China des 19. Jahrhunderts. Die Überlieferung des Stils erfolgte meist mündlich, was die historische Rekonstruktion erschwert. Trotz dieser Unsicherheiten bleibt Wing Chun ein lebendiger Stil mit tiefen kulturellen und sozialen Wurzeln.

Wandel und Geschichte der Kampfkünste

Autor*in: Albrecht Urs-Vito

DOI: 10.4119/unibi/3003644

Jahr: 2025

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Lizenz: CC BY-ND 4.0

Auf den ersten Blick fehlen dem Wing Chun-Kampfsystem die Ästhetik und die gesundheitsfördernden Faktoren, die die Hauptmerkmale anderer Kampfkünste wie Tai Chi Chuan1 oder Karate sind. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass diese Kampfkunst im Laufe der Zeit eine unabhängige Transformation durchlaufen hat, ohne dass sie ihr Narrativ als pragmatische und effiziente Kampfkunst verloren hat. Das Ziel des Erlernens von Wing Chun war (und ist) die Deeskalation einer gewalttätigen und schädlichen Situation im Sinne der Selbstverteidigung. Wenn ein Kampf nicht zu vermeiden ist, haben die Maßnahmen die höchste Priorität, die dem Eigenschutz dienen und helfen, den Gegner zu überwinden, indem man ihn am Kämpfen hindert und/oder die Gelegenheit zur Flucht ergreift. Die Bewegungen und Techniken folgen den einfachen Regeln der Kampfpraxis und sind daher effizient, schnell, schwer zu erkennen und schwer zu antizipieren. Die Kampfdistanz ist so gering, dass sie keine weiten (öffnenden), langsamen (leicht zu sehenden und zu erahnenden) und kräftezehrenden Bewegungen zulässt, da diese die Chancen auf eine erfolgreiche Kontrolle der Situation verringern. Dadurch eignet sich dieser Stil für enge und begrenzte Räume.

Die Gründungslegende des Wing Chun

Die Kenntnis des Ursprungs und der Geschichte der Kampfkunst ermöglicht es den Lernenden, sich besser mit dem Stil zu identifizieren. Das Teilen einer Tradition mit anderen Schülern und dem Lehrer ist ein weiterer verbindender Aspekt und hilft, stärkere Bindungen innerhalb der Gruppe aufzubauen, ähnlich wie in einer Familie. Außerdem wird der Stil durch den Nachweis eines edlen Erbes glamouröser. Die Wing Chun-Gemeinschaft schätzt sicherlich ihre eigenen Ursprungslegenden, die die oben beschriebenen sozialen Zwecke erfüllen. Fast alle haben den untrennbaren Aspekt der Verbindung zwischen dem Stil und dem südlichen Shaolin-Kloster in der Person von Ng Mui. Den Legenden zufolge floh die Nonne Ng Mui aus dem Kloster, nachdem es zur Zeit der Herrschaft des Kaisers Jiaqing (1796-1820) vom Qing-Militär eingenommen worden war. Ng Mui war eine der fünf Ältesten, die fliehen konnten. Wie ihre Glaubensschwestern und Brüder entwickelte sie ihr eigenes Kampfsystem, indem sie Elemente des Schlangen- und Kranich-Stils2 und des Shaolin Kung-Fu so anpasste, dass sie für Kämpfer mit geringerer Größe und Kraft besser geeignet waren. Ng Mui konzentrierte sich auf die wesentlichen Elemente, die in kürzerer Zeit verinnerlicht werden konnten. Ng Mui lebte in Liancheng und freundete sich mit dem örtlichen Tofu-Händler und ehemaligen Kung-Fu-Meister Yim Yee an. Seine jugendliche Tochter, Wing Chun, wurde von einem Kriegsherrn namens Wong belästigt, und Yim arrangierte für seine Tochter ein Training mit der Nonne. In einem Kampf siegte Wing Chun über den Kriegsherrn, obwohl dieser Mann ihr körperlich überlegen war. Wing Chun nutzte die körperliche Stärke und Größe ihres Gegners als Vorteil und setzte diese Aspekte erfolgreich gegen ihn ein. Später gab sie ihr Wissen an ihren Ehemann Leung Bok Chau weiter, der den Stil »Wing Chun« (chin. »Frühlingslied«) nannte, um seine Frau zu ehren. Laut Clements lehrte Leung selbst den Stil an den reisenden Darsteller Wong Wah Bo vom Opernensemble »Rote Dschunke«, der den Stil um waffengestützte Techniken wie Stabkampf und Schmetterlingsschwertkampf erweiterte. Letzterer resultierte aus einer Freundschaft mit einem Besatzungsmitglied und ehemaligen Flüchtling Leung Yee Tai. Der Anführer der »Roten Dschunke«, Li Wen Mao, war auch einer der Anführer des Taiping-Aufstandes (1851-1864) und hatte Verbindungen zu Chen Kaihe, dem Anführer der Guangdong Tiandi Triade. Li Wen Mao rekrutierte mehrere Akteure aus Foshan und anderen Orten, um drei Armeen für den Aufstand zu organisieren. Nachdem der Aufstand niedergeschlagen war, floh Li Wen Mao nach Guangxi, wo er und seine Anhänger einige Städte besetzten und ein neues unabhängiges Königreich ausriefen. In Foshan führte derweil eine Säuberungsaktion gegen die Mitglieder der Rebellion – nicht nur gegen die Theatertruppen – zu massiven Verlusten. Die kantonesische Oper wurde verboten und die damit verbundenen Kampfkünste verschwanden fast vollständig. Einige Schauspieler des »Rote Dschunke«–Opernensembles überlebten, wechselten ihren Beruf und unterrichteten aus Angst vor Strafverfolgung ihre Kampfkünste in Verkleidung. Sie lehrten Wing Chun eine lokalen Arzt für chinesische Medizin in Foshan (Leung Jan, ein Schüler von Leung Yee Tai und Wong Wah Bo), der es an einen Geldwechsler namens Chan Wah Shun weitergab. Einer seiner Schüler war Ip Man, der ein bekannter Großmeister des Wing Chun wurde. Ip Man öffnete den Stil für die Öffentlichkeit und leitete die Renaissance des Stils ein, wie wir ihn heute kennen (und der seither auch schon diverse Wandlungen erfahren hat).

Von Mythen und historischen Beweisen

Innerhalb der Wing Chun-Gemeinschaft fand der Mythos breite Akzeptanz. Leider gibt es kaum historisch belastbare Beweise für die Geschichten, die über die Gründung, Entwicklung, Etablierung und den Übergang der Kunst erzählt werden. Insbesondere die Verbindung zum südlichen Shaolin-Kloster war ein integraler Bestandteil der meisten Legenden über den Ursprung des Wing Chun (und auch Teil einiger anderer Gründungsmythen von Kampfkünsten) und wurde zu einem starken Glaubensobjekt. Problematisch an diesen Legenden ist, dass es keine stichhaltigen Informationen gibt, um die Existenz des Klosters zu belegen. Buckler hat das »modus tollendo tollens«-Argument3 zu Tiandihuis Behauptung des gleichen Ursprungs wie Wing Chun verwendet und keine nachprüfbaren Beweise für eine Verbindung zum südlichen Shaolin-Kloster gefunden. Mit seiner Analyse ergänzt Buckler eine alternative historische Erklärung von Chu et al., dass Wing Chun von der »Roten Dschunke« entwickelt wurde. Buckler stützt die von Chu et al. formulierte These durch Argumente, wie der starken Ähnlichkeiten zwischen den Gründern der kantonesischen Oper und des Wing Chun. Ferner führt er die Verwendung pragmatischer Kampftechniken für rebellische Aktivitäten und/oder zur Selbstverteidigung gegen Piraten mit vergleichbaren Trainingstechniken, die auf der »Roten Dschunke« angewendet wurden, ins Feld. Buckler hat eine alternative Interpretation der verfügbaren Literatur in Bezug auf die Arbeit von Chu et al. entwickelt, die im folgenden Abschnitt vorgestellt wird.

Die mobile chinesische Operngemeinde

Laut Little und Xuan handelt es sich bei der Gründungsgeschichte um eine List mit dem Ziel, Mandschu-Inquisitoren auf die falsche Fährte zu locken und die Einheimischen vor Verfolgung zu schützen. Das ergibt Sinn, wenn der Ursprung innerhalb der Operngemeinschaft selbst liegen könnte. Eine herausragende Persönlichkeit sowohl des Wing Chun als auch der Oper ist Cheung Ng (alias Tan Sau Ng, alias Zhang Wu), der in mehreren auf Wing Chun bezogenen Texten erwähnt wird. Er gilt auch als Gründungsmeister der 1736 ins Leben gerufenen chinesischen Künstlervereinigung. Mehrere Mitglieder der »Roten Dschunke«-Ensembles könnten von ihm gelernt haben, wie Wong Wah Bo, Leung Yee Tai und Leung Bok Chau. Buckler räumt ein, dass die Ähnlichkeit von Wing Chun und der chinesischen Oper schwer zu ignorieren ist, auch wenn solide historische Beweise fehlen. Folgt man Chu et al. und Buckler, so lässt sich Wing Chun zuverlässig auf die 1850er Jahre und die Opernkompanie zurückführen. Das »Rote Dschunke«-Opernensemble hatte seinen Sitz in Foshan und reiste mit Booten (Dschunken) entlang des Perlflussdeltas zu ihren Zielen, wo sie auftraten. Außerdem waren die roten Boote eine ideale Tarnung, um revolutionäre Aktivitäten zu planen. Die Techniken des Wing Chun wären auf Schiffen mit konstruktionsbedingt kompakten, engen und begrenzten Räumen leicht anwendbar gewesen. Chu et al. interpretierten den Namen des Stils auch mit einer revolutionären Erzählung, die sich auf die Ming-Dynastie und die Rebellion von Himmel und Erde bezieht. Wing Chun könnte auch eine Abkürzung für »Wing yun chi jee; mo mong Hon juk; Dai day wui chun« (»Sprich immer mit Entschlossenheit; Vergiss die Han-Nation nicht; Der Frühling wird wiederkommen») sein. Neben dem revolutionären Kontext hängt die Entwicklung sicherlich auch mit dem Aspekt der Selbstverteidigung in Zeiten der »kollektiven Gewalt» im Sinne der Piraterie zusammen: Zwischen 1793 und 1805 gab es in der Provinz Guangdong bis zu siebzigtausend Piraten, was auf eine Kombination aus Überbevölkerung, ökologischen Bedingungen und verstärktem Handel und der Abhängigkeit von vietnamesischem Reis zurückzuführen war. Schauspieler waren in dieser Region seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts auf Booten unterwegs. Da Schießpulver, Feuerwaffen und Kanonen von schlechter Qualität waren, bevorzugten die Piraten den Nahkampf. Die lange Bambusspitze und eine Vielzahl von Messern und Schwertern wurden von den Piraten häufig verwendet, um ihre Ziele anzugreifen. Buckler spekuliert, dass die im Wing Chun bekannten Waffen wie das Baat Cham Dao (Schmetterlingsmesser) und Luk Dim Boon Kwun (Sechseinhalb-Punkt Stock) als Antwort auf diese Angriffe entwickelt und verwendet wurden. Es scheint auch plausibel, dass der charakteristische waffenlose Kampfstil entwickelt und verfeinert wurde, da der waffenlose Kampf auf dem begrenzten Raum eines Bootes und unter Beibehaltung des Gleichgewichts geführt werden konnte.

Limitationen

Verlässliche und historisch fundierte Quellen in schriftlicher Form sind rar, da die mündliche Weitergabe von Informationen über Wing Chun von Lehrern an Schüler die Hauptlehrmethode war und immer noch ist. Unabhängig von der Informationsquelle könnte es auch eine kulturbedingte Verzerrung der Geschichtsschreibung geben: China legitimiert oftmals die Gegenwart durch die Vergangenheit. Es gibt viele Verflechtungen mit den Lebensgeschichten von Herrschern, und alle Legenden behaupten, dass sie von tatsächlichen Ereignissen der menschlichen Geschichte erzählen. Daher ist es oft schwierig, Fakten von Fiktion zu trennen. Die vorhandenen schriftlichen Dokumente und die als Sekundärliteratur verfügbaren Dokumente wurden meist von Kampfkünstlern und nicht von Historikern verfasst. Diese Dokumente befassen sich in erster Linie mit den technischen Aspekten des Stils, lassen aber in der Regel gültige historische Informationen über die Ursprünge der Kunst vermissen. Zuverlässigere Quellen sind sicherlich die Werke von Jonathan Clements, Judkins sowie Nielson und Scott Buckler, die die historischen und sozialen Aspekte aufgrund ihres akademischen Hintergrunds gut einzuordnen wissen. Valide Recherchen können gut zur Verbesserung des Verständnisses für die Ursprünge dieser besonderen Kampfkunst beitragen, auch oder gerade weil sie entmystifizieren.

Quellen

Buckler, S. (2012). Origin of Wing Chun – an Alternative Perspective. Journal of Chinese Martial Studies,
(6), 6–28.

Chu, R., Ritchie, R., & Wu, Y. (1998). Complete Wing Chun: The Definitive Guide to Wing Chun’s History
and Traditions. North Clarendon: Tuttle Publishing.

Clements, J. (2016). A Brief History of the Martial Arts: East Asian Fighting Styles, from Kung Fu to
Ninjutsu. London: Robinson.

Granet, M. (1985). Das chinesische Denken: Inhalt, Form, Charakter. Suhrkamp.

Haiderer, A. (2009). Wing Chun: Geschichte und Hintergründe einer chinesischen Kampfkunst.
Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller Aktiengesellschaft & Co. KG.

Judkins, B. N., & Nielson, J. (2015). The Creation of Wing Chun: A Social History of the Southern Chinese
Martial Arts. New York: SUNY Press.

Little, J., & Xuan, D. (2015). The Tao of Wing Chun: The History and Principles of China’s Most Explosive
Martial Art. Skyhorse Publishing.

Mackerras, C. (1975). The Chinese Theatre in Modern Times: From 1840 to the Present Day. London:
Thames & Hudson, Ltd.

Mackerras, C. (1983). Chinese Theater: From Its Origins to the Present Day. Honolulu: University of Hawaii
Press.

Murray, D. H. (1987). Pirates of the South China coast, 1790-1810. Stanford: Stanford University Press.

Ranné, N. (2011). Die Wiege des Taijiquan – der soziokulturelle Kontext der chinesischen
Kampfkunsttheorie mitsamt einer Analyse der ältesten Bewegungsformen des Taijiquan. Berlin :
Logos-Verl., 2011 — ISBN 978-3-8325-2477-7

Ward, B. E. (1989). The Red Boats of the Canton Delta: A Historical Chapter in the Sociology of Chinese
Regional Drama. In Proceedings of International Conference on Sinology, (pp. 233–257).

Yip, C., & Connor, D. (1993). Wing-Chun Martial Arts: Principles & Techniques. Red Wheel/Weiser Books.

Footnotes

  1. Oft auch als chinesisches Schattenboxen bezeichnet. Tai Chi Chuan zählt zu den inneren Kampfkünsten, die der Legende nach aus den Wudang-Bergen stammt, während äußere Kampfkünste sich auf die Shaolin-Tradition berufen. Zur Geschichte siehe ausführlich Ranné.
  2. Hier ist die Trennung schwierig, da sich die Gründungslegende des Tai Chi Chuan auf die Beobachtung des Kampfes zwischen Schlange und Kranich bezieht.
  3. Eine logische Schlussfolge, die aus den Voraussetzungen »Wenn A, dann B« und »Nicht B« auf »Nicht A« schließen lässt.