Die Entwicklung des Judos in drei Phasen

In diesem Aufsatz wird die historische Entwicklung der japanischen Kampfkünste anhand dreier zentraler Übergänge dargestellt. Zunächst werden die Samurai als hochspezialisierte Krieger beschrieben, die im Umgang mit Waffen und Nahkampftechniken geschult waren. Mit dem Tokugawa-Shogunat wandelte sich ihr Rollenbild vom Kämpfer zum höfischen Beamten. Der Begriff „Bushido“ ersetzte das kriegerische „Bujutsu“ und betonte Moral und Disziplin. Die Meiji-Restauration entmachtete die Samurai, viele mussten zivile Berufe annehmen. Das Verbot von Schwertern führte zur Wiederentdeckung des Jujutsu als waffenlose Kunst. Jigoro Kano transformierte das Jujutsu zum modernen Judo mit pädagogischem und sportlichem Fokus. Er etablierte Gürtelgrade, Uniformen und bildete eine Brücke zwischen Ost und West. Kanos Einfluss als Pädagoge führte dazu, dass Judo in Japans Schulsystem und international Fuß fasste. So zeigt der Aufsatz, wie sich Kampfkunst von tödlicher Technik zur Form der Selbstkultivierung entwickelte.

Wandel und Geschichte der Kampfkünste

Autor*in: Albrecht Urs-Vito

DOI: 10.4119/unibi/3003643

Jahr: 2025

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Die Samurai waren in der Vergangenheit die geschicktesten Krieger auf den japanischen Schlachtfeldern. Von Kindesbeinen an ausgebildet, lernten die Samurai vor allem den Umgang mit Langbogen, Speer und Schwert und ab dem 16. Jahrhundert auch den Umgang mit Feuerwaffen. Die Samurai wendeten diese Fertigkeiten mit Präzision vom Pferderücken aus an. Die Krieger übten das Greifen als Nahkampfstrategie, die vor allem beim Sammeln von Trophäen eingesetzt wurde: Die hierzu eingesetzte Methode sah vor, die Köpfe der Feinde von ihren oft noch lebenden Körpern »abzudrehen und abzuschneiden« (jpn. »Kubinejikiru«). Weitere praktischen Fähigkeiten nutzten das Wissen, wie ein Zu-Boden-Fallen ohne Verletzungen (z. B. vom Pferd oder im Kampf) gelingt, und Nahkampftechniken. Im Kampf mit in Rüstungen gekleideten Samurai-Kriegern war es viel sinnvoller Grifftechniken (z. B. Würfe, Hebel, Würgegriffe) anzuwenden, als Tritte und Schläge. Letztere hätten dem Gegner kaum Schaden zugefügt.

Erster Übergang – vom Krieg zum Frieden

Mit der Einsetzung des Tokugawa-Shogunats (1603 - 1868) fanden die Jahrhunderte des Bürgerkriegs ein Ende. Im Laufe der Jahrhunderte erlaubten Kaiser dem Shogun (in etwa: »barbarenunterdrückender oberster General«), das japanische Land zu regieren und zu stabilisieren. In Friedenszeiten fand die prominente Kriegerkaste der Samurai nur noch selten Gelegenheit, ihr ursprüngliches Handwerk der Kriegsführung auszuüben, sondern war mit Hofritualen, Buchhaltung und Managementaufgaben und sogar mit Brettspielen wie Go und Shogi beschäftigt. Dieser Wandel in der Einstellung spiegelt sich im Übergang vom Schlachtfeldhandwerk zu ritualisierten Artefakten der Samurai-Kriegstechniken wider. In der Sprache wurde der Begriff »Kampfkunst« (jpn. »Bujutsu«) zurückhaltender verwendet und ein neuer Begriff etabliert: »der Weg des Kriegers« (jpn. »Bushido«).

Zweiter Übergang – vom Samurai zum Knochenbrecher

Japan konnte seine selbst auferlegte Isolation vom Rest der Welt nicht dauerhaft durchhalten. Der Rückgang der praktischen Fähigkeiten und Anwendungen der Samurai und Shogune war auf die Veränderungen zurückzuführen, die mit der Meiji-Restauration 1868 ihren Höhepunkt erreichten, als der Kaiser nach einem Bürgerkrieg die Macht über das japanische Volk zurückgewann1. Nach einem Jahrzehnt verloren die Samurai ihren politischen Einfluss und verschwanden fast, als 1873 das nationale stehende Heer aufgebaut wurde. Die ehemaligen Krieger wurden entmilitarisiert und mussten sich der Gesellschaft anpassen. Sie arbeiteten nun als Knochenbrecher, Ärzte und Sattler. Das Verbot von Schwertern im Jahr 1876 sowie der Satsuma-Aufstand2 1877 und seine Auswirkungen auf den Besitz und die Verwendung von Waffen führten zu einer Renaissance des Jujutsu als Kampfkunst mit leeren Händen.

Dritter Übergang – vom Jujutsu zum Judo

Die Shogune konnten dem Zeitgeist nicht standhalten und waren nicht in der Lage, das Land vor dem Einfluss der Europäer und Amerikaner zu bewahren. Es war Jigoro Kano (1860-1938), ein in Europa ausgebildeter Japaner der Oberschicht, der einen Teil dieses Einflusses in das Jujutsu einbrachte und es in die moderne Zeit transformierte. Kano bildete ein Vorbild für den erfolgreichen Übergang anderer »altmodischer Kampfkünste« (jpn. »Kobudo«) in die Neuzeit und gab ein Beispiel dafür, wie die Kombination von exzellenten Erziehungs- und Kampfkunstkenntnissen, politischem Talent und Sensibilität für den Zeitgeist zu einer erfolgreichen Implementierung seines Judos als nationalen Standard führen konnte. Kanos Lernstrategie beruhte auf Analyse und Verständnis, nicht auf der Nachahmung seiner Lehrer oder einfachen Auswendiglerntechniken. Darüber hinaus untersuchte er die möglichen Fehler und Schwächen seiner vermeintlich überlegenen Lehrer und adaptierte Strategien aus anderen (westlichen) Kampfkünsten, um seine Lehrer zu überwinden. Kano lernte von drei verschiedenen Schulen und erwarb hierdurch vielfältige Kenntnisse und implizites Wissen, u. a. erhielt er wertvolle Schriftrollen von seinen früheren Meistern. Kombiniert mit den Fertigkeiten des Ringens begründete er Judo, die sportliche Variante des Jujutsu. Die Anpassungen wurden von Kano als Ausdruck der zugrunde liegenden Philosophie vorgenommen, um eine größere körperliche, moralische und geistige Tugend zu vermitteln. Das Land und er selbst öffneten sich und übernahmen westliche Ideen und Technologien. Diese Elemente wurden in der Folgezeit von mehreren Kampfkunstsystemen übernommen. Zum Beispiel verlieh Kano 1883 seinen ranghöchsten Judo-Schülern den schwarzen Gürtel (jpn. »Kuro obi«). Auf diese Weise etablierte Kano das Rangsystem, um die Fortgeschrittenen von den Anfängern zu unterscheiden und bezog sich auf das System, das er von Go3 -Spielern ableitete. Ab 1907 führte Kano die weiße Übungsuniform (jpn. »Dogi«) ein, die die Unterschiede des sozialen Status optisch ausglich. Da die Praxis des Judos nicht mit einer bestimmten religiösen Überzeugung verbunden ist, ergibt sich hieraus mehr Flexibilität und Akzeptanz sowohl innerhalb als auch außerhalb Japans.

Schlussbemerkungen

Der Erfolg des Judos hängt nur zum Teil mit Kanos Erfolg als Kampfkünstler zusammen. Aufgrund seiner phänomenalen Karriere im Bildungswesen und seiner Fähigkeiten auf praktischer und politischer Ebene als Leiter der Pädagogischen Hochschule in Tokio war Kano in der Lage, seine Philosophie zu vermitteln und das Judo bei neuen Lehrergenerationen einzuführen. Einige Jahre nachdem das Bildungsministerium Kano zum Leiter der Grundschulbildung ernannt hatte, wurden beide Fächer als Pflichtfächer für verschiedene Klassenstufen eingeführt. Als Leiter des Olympischen Komitees Japans weigerte sich Kano, Judo direkt als olympische Disziplin zu fördern, aber er nutzte seinen Einfluss, um dazu beizutragen, Budo in das olympische Konzept zu integrieren. Nach seiner Einführung im Jahr 1964 wurde Judo 1972 zu einer regulären olympischen Disziplin und 1988 zu einer paralympischen Disziplin. Der Wandel war dann auch noch nicht abgeschlossen, da Frauen erst seit 1992 Medaillen gewinnen durften.

Quellen

Callan, M. (Hrsg.) (2018). The Science of Judo. Routledge, Oxon.

Clements, J. (2016). A Brief History of the Martial Arts: East Asian Fighting Styles, from Kung Fu to
Ninjutsu. London: Robinson.

Dickfeld G. (2013). Leben und Tod. Lehrbücher des Go. Brett und Stein Verlag, Frankfurt 2013, ISBN
978-3-940563-42-2

Green, T. A. (2001). Political Conflict and the Martial Arts. In T. A. Green (Ed.), Martial Arts of the World: An
Encyclopedia. Santa Barbara, Denver, Oxford: ABC-CLIO.

Guttmann A. and Thompson L.A. (2001). Japanese Sports: A History. University of Hawaii Press. pp.
104–105. ISBN 978-0-8248-2464-8

Kano, J., Kano, Y., & Naoki, M. (2013). Mind Over Muscle: Writings from the Founder of jūdō. Tokyo:
Kodansha International.

Kreiner, J (Hrsg.) (2020). Geschichte Japans (8. Auflage). Reclam, Ditzingen.

Sato, S. (2013). The sportification of judo: Global convergence and evolution. Journal of Global History,
8(2), 299-317. doi:10.1017/S1740022813000235

Uozumi, T. 2010. An Outline of Budō History. In IBU Budo Series Volume 1: The History and Spirit of Budo,
1–22. Katsuura: International Budo University.
https://www.budo-u.ac.jp/laboratory/ibu/pdf/Capter_1_An_Outline_of_Budo_History.pdf

Footnotes

  1. Die Umgestaltungsprozesse förderten den Aufbau einer nach westlichem Vorbild gestalteten politischen Ordnung mit nachhaltigen Auswirkungen auf die japanische Gesellschaft.
  2. Der letzte große (und blutige) Aufstand in der Region Satsuma der Samurai gegen die neue Regierung. Allein dieser Aspekt der japanischen Geschichte würde einen eigenen Aufsatz füllen. Es sei an dieser Stelle auf Mounseys »The Satsuma Rebellion: An Episode of Modern Japanese History« von 1879 verwiesen.
  3. Ein antikes Zweispieler-Brettspiel aus China mit großer Verbreitung in Ostasien. Es handelt sich um ein sehr komplexes Strategiespiel, in welchem es primär um territoriale Überlegenheit auf dem Spielfeld geht. Hierzu werden linsenförmige Spielsteine auf einem Spielfeld wechselseitig taktisch platziert, um diese Territorien abzugrenzen und/oder den Gegner so zu isolieren, dass er gefangengenommen wird. Die Spielzugvarianten übersteigen um ein Vielfaches die des Schaches. Siehe hierzu auch Literatur von Dickmann.