Die Zukunft der Kampfkünste: Transformation zwischen Tradition, Kommerz und globalem Wandel
In diesem Aufsatz wird untersucht, ob sich aus der Geschichte der Kampfkünste Muster für künftige Entwicklungen ableiten lassen. Am Beispiel des olympischen Ringens wird gezeigt, wie sich Sportarten an veränderte Rahmenbedingungen anpassen müssen, um zu überleben. Es folgt eine Analyse der Unterschiede zwischen traditionellen Kampfkünsten und modernen Kampfsportarten. Während Kampfkünste auf lebenslange Selbstkultivierung zielen, stehen im Sport Leistung, Regelwerk und Wettbewerb im Vordergrund. Am Beispiel des Judos zeigt sich, wie asiatische Kampfkünste durch Anpassung an politische und gesellschaftliche Strömungen Bestand hatten. Globalisierung und Kommerzialisierung wirken heute als zentrale Veränderungsfaktoren. Unterschiede in kultureller Wahrnehmung und Schülerinteresse beeinflussen die Ausprägung der Lehre, wie beim Taekwondo in den USA. Traditionelle Elemente wie Meditation, Formen und philosophische Inhalte geraten dabei zunehmend in den Hintergrund. Der Wandel birgt das Risiko, den ursprünglichen Charakter der Kunst zu verfremden oder aufzugeben. Lehrende und Lernende stehen somit in der Verantwortung, bewusst zwischen Bewahren und Verändern zu wählen.
Autor*in: Albrecht Urs-Vito
Jahr: 2025
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Es ist sehr schwierig, individuelle Verläufe von Kampfkünsten vorherzusehen. Die retrospektive Betrachtung fällt da natürlich leichter. Dieser Aufsatz untersucht, ob sich anhand der Geschichte ein Muster für zukünftige Entwicklungen ableiten lässt und welche das sein könnten. Zunächst wird hierzu am Beispiel des europäischen Ringens der Anpassungsprozess vorgestellt, der nötig wurde, damit der Sport seine Anerkennung auf globaler Ebene behält. Danach werden die Unterschiede zwischen Kampfsportarten und kämpferischen Sportarten analysiert. Anschließend werden in einem kurzen Abschnitt Übergangsprozesse am japanischen Beispiel für asiatische Kampfsportarten beschrieben. Abschließend werden Veränderungsfaktoren erörtert und charakteristische Elemente angesprochen, die bei der Entwicklung von Kampfkünsten zu Kampfsportarten berücksichtigt werden müssen.
...es war eine Frage des Überlebens1
Ringen ist vermutlich die älteste Kampfsportart der Menschheit. Belege für die Existenz dieser Art des Kampfes mit bloßen Händen gehen mindestens bis 1500 v. Chr. zurück, in Form von Beschreibungen aus der altägyptischen Zivilisation. Ringen war auch eine Disziplin der antiken Olympischen Spiele im Jahr 708 v. Chr. und wurde 1896 in die modernen Olympischen Spiele in Athen aufgenommen. Mit der Ankündigung »Ringen wird von den Olympischen Spielen 2020 gestrichen2« sorgten die Offiziellen des Internationalen Olympischen Komitees am 12. Februar 2013 für eine weltweite Überraschung in der Community. Nach einem internationalen Aufschrei und etwa sieben Monate später wurde das Ringen für die Jahre 2020 und 2024 wieder in die Olympischen Spiele aufgenommen, allerdings mit dem Status einer Nicht-Kernsportart. Seitdem konkurriert das Ringen mit anderen Nicht-Kernsportarten um einen Platz bei den Olympischen Spielen nach 2024. Gezwungen durch die Umstände nahm die Führung des Weltringerverbandes3 Anpassungen an den Olympischen Spielen 2016 vor, um mehr Menschen anzuziehen und die Mängel zu beheben, die wahrscheinlich zur Streichung der Sportart geführt haben. Dazu gehörten auch Regeländerungen, die darauf abzielten, die Kämpfe schneller zu machen und mehr Aggression zu fördern. Die Gründe für den Ausschluss des Ringens von den Olympischen Spielen durch das Internationale Olympische Komitee (»International Olympic Committee, IOC«) sind nach wie vor unbekannt. Bekannt ist, dass das IOC bei der Auswahl der Kernsportart acht Standardkriterien anwendet: Dazu gehören »die universellen Werte, Governance, Geschichte und Tradition, Universalität, Popularität, Athleten, der Entwicklungsstand des internationalen Verbandes und finanzielle Solidität«.
Gründe für den Wandel
Es liegt auf der Hand, dass sich der Ringkampf der gegebenen Situation anpassen musste, und dies gilt auch für andere Sportarten oder Kampfsportarten, die sich an Umstände anpassen mussten. Die Gründe für Veränderungen in den Kampfkünsten können vielfältig sein. Im Ringen könnte der wirtschaftliche Druck4 der entscheidende Faktor für den Ausschluss durch das IOC sein, wie die Gegenreaktion des Weltringerverbandes zeigt. Dieser hat mit seinen Aktionen eindeutig wirtschaftliche Defizite angesprochen (siehe oben). Die Beispiele aus dem Ringen beschreiben treffend die Situation im westlichen Sport. Im nächsten Abschnitt werden die Unterschiede zwischen Kampfkunst und Sport ausführlicher erläutert. Das Verständnis hilft zu verstehen, warum der Wandel von Kampfkunst zum Kampfsport auch oft mit einem Verlust charakteristischer traditioneller Aspekte der jeweiligen Kampfkunst einhergeht.
Kampfkunst vs. Kampfsport
Die Unterschiede zwischen militärischen Kampfkünsten und ihrer zivilen Variante wurden an anderer Stelle in dem Buch bereits erörtert. Dieser Aufsatz befasst sich mit den identifizierenden Aspekten der kampfsportlichen Kampfkünste, die auch die Philosophie, Wirkung, Anwendung und Trainingsmethoden betreffen. Im Kampfsport geht es in erster Linie darum, einen Wettkampf im meist waffenlosen Nahkampf zu gewinnen. Es ist nicht das Ziel, den Gegner schwer zu verletzen oder gar zu töten. Vereinbarte Regeln müssen eingehalten werden, andernfalls kann ein Sieg über den Gegner aufgrund einer Schiedsrichterentscheidung annulliert werden (z. B. wenn Fouls entdeckt werden). Eine Niederlage im Kampfsport wird durch einen physischen oder technischen (nach Punkten) K. O., eine Aufgabe, manchmal eine Auszeit oder eine Disqualifikation definiert. Die Eskalation mit der Konsequenz des Kampfes ist unbedingt gewollt, die Kontrahenten sind beide bereit zu kämpfen und darauf vorbereitet. Das Training konzentriert sich auf spezielle Techniken, Strategien und Ausdauertraining, da die Stärken und Schwächen des Gegners bekannt sind. In den traditionellen Kampfkünsten sind Selbstverteidigungsaspekte zwar relevant, sie stehen aber nicht im Vordergrund. Stattdessen wollen die meisten traditionellen Kampfkünste als Lebensstil mit einem philosophischen und esoterischen Anspruch verstanden werden, dem man ein Leben lang und nicht nur für die kurze Zeitspanne einer Sportkarriere folgen soll. Die Lebensziele in den traditionellen Kampfkünsten sind geistige (und körperliche) Selbstverbesserung und tiefere philosophische Reflexion. Das Training in den traditionellen Kampfkünsten ist geprägt von Etikette, Ritualen, Ästhetik, aktiver Meditation durch das Ausführen von Formen und Kampfübungen und stiller Meditation (Mokuso im Karate), Training von Techniken und je nach Stil Selbstverteidigung und Freikampf.
Der Wandel der asiatischen Kampfkünste
Oftmals leiteten die Anpassungen einen Wandel der Kampfkunst ein, der die Chancen ihres Überlebens in bewegten Zeiten erhöhte. Die Entwicklung der asiatischen Kampfkünste vollzog sich von der Kriegsführung zu einer Selbstverteidigung und Freizeitbeschäftigung und von der Selbstverteidigung zum Kampfsport. Das Beispiel des japanischen Judos, das aus dem Jujutsu der Samurai hervorgegangen ist, zeigt dies sehr gut. Kano passte das Jujutsu erfolgreich an die Modernisierungsprozesse Japans im frühen 20. Jahrhundert an, was dazu führte, dass es 1968 als erste asiatische Kampfsportart als olympische Disziplin aufgenommen wurde. Judo ist ein berühmtes Produkt des japanischen Exports, das in der ganzen Welt praktiziert wird. Der Übergangsprozess ist zu komplex, um ihn hier im Detail zu beschreiben. Kurz zusammengefasst: Kano erkannte mehrere Schlüsselaspekte der Zeit und passte die Kunst an, um sie gesellschaftlich akzeptabler, aber auch attraktiver für die Bevölkerung und die Regierung zu machen, wobei beide Veränderungen für die Integration in den olympischen Sport am wichtigsten waren. Kano nutzte die zunehmende Popularität von Kampfsportveranstaltungen in Japan und nationalistische Tendenzen (die durch mehrere Siege im Krieg vor dem Zweiten Weltkrieg geweckt wurden) und entwickelte Judo als eine Kombination aus Leibeserziehung, Wettkampf und persönlicher Kultivierung. Nach der Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg wurden mit der Einführung demokratischer Werte alle Kampfsportarten aus dem Land verbannt. Durch die Betonung des sportlichen Aspekts des Judos erlebten die Kampfkünste ein erfolgreiches Comeback und trugen zu Nationalstolz und Selbstvertrauen bei. Heutzutage mag der Wandel in den asiatischen Kampfkünsten primär durch Globalisierung und Kommerzialisierungsdrang initiiert sein, jedoch teilen sie das gleiche Bedürfnis nach politischer und gemeinschaftlicher Unterstützung. Jede Veränderung hat ihren Preis. Anpassungen können zu Verformungen führen, die der Kampfkunstform relevante Elemente entziehen. Es ist eine heikle Aufgabe, den besonderen Charakter beim Übergang einer Kampfkunst in einen Kampfsport zu bewahren. Im nächsten Abschnitt wird analysiert, welche Auswirkungen Transformationsprozesse haben und welche Elemente auf dem Weg von der Kampfkunst zum Kampfsport verloren gehen können.
Veränderte Faktoren
In den 1980er Jahren analysierten Allan Back und Daeshik Kim die Unterschiede im Taekwondo, das in Korea und den Vereinigten Staaten (USA) praktiziert wird. Die Autoren stellen fest, dass in den Vereinigten Staaten wettkampfmäßige (sportliche) und Sparringelemente des Taekwondo stärker in den Vordergrund traten und weniger Unterschiede in Bezug auf rituelle und esoterische Aspekte bestanden. Sie vermuten, dass dies vor allem auf die Einstellung der amerikanischen Klientel zurückzuführen ist. Nach Ansicht von Back und Kim war die Klientel meist nicht an den traditionellen Elementen interessiert, wie sie im Ursprungsland der Kampfkunst gelehrt werden. Das Erlernen einer fremden Terminologie, Meditation, sich wiederholende Übungen und Formen und die Konzentration auf nur wenige Techniken lagen nicht im Kerninteresse der Schüler. Vor allem diese fehlenden Elemente stießen bei den traditionellen Vertretern der Kunst auf Kritik. Die Autoren erörtern das Verhältnis zwischen »Tradition und Wandel, zwischen formalem Training und freiem Kampf, zwischen langfristigen Zielen und kurzfristigen Befriedigungen« in den Kampfkünsten und fragen rhetorisch nach dem besten Weg zur Entwicklung der Kampfkünste. Back und Kim sprechen auch vier Kriterien an, die sich auf die Veränderung der Kampfkunst auswirken: die Unkenntnis der nationalen oder kulturellen Herkunft (a), die sich auf die Kampffähigkeiten auswirkt, (b) die Verstärkung oder Verminderung des künstlerischen Aspekts der Kampfkunst (c) und die Auswirkung auf die geistige Entwicklung (d). Nach ihren Forschungen bilden die traditionellen Elemente den Charakter jeder einzelnen Kampfkunst und tragen zu ihrer Identität bei. Diese Kriterien bedürfen einer kurzen Erläuterung: Die Autoren unterscheiden zwischen der Beherrschung des Kampfes und der »Kunst«. Das Kämpfen, gemeinhin praktiziert wie das perfekte Tischlerhandwerk, gilt nach Ansicht der Autoren nicht als Kampfkunst. Aber durch den Kontakt mit dem Erhabenen und Göttlichen, der über den Kontakt im normalen Leben hinausgeht, wird die reine Technik zu etwas Künstlerischem. Rosenberg und Sapochnik beschreiben das Wesen der Kampfkünste als ein Paradoxon zwischen »Suchen und Nicht-Suchen« und »Wissen und Nicht-Wissen«. Die Autoren stellten fest, dass die Wiederholung entscheidend ist, dass »das Handwerk das Erscheinen eines plötzlichen und unbewussten Impulses ermöglicht«. Daher haben die Elemente der Meditation (d) Auswirkungen auf die geistige Entwicklung, sei es in Form der rituellen Begrüßung, der körperlichen Meditation durch das Ausführen von Formen und Übungen oder der inneren Meditation. Back und Kim stellen fest, dass »der Wunsch nach Kampfkompetenz in den Wunsch nach Kompetenz in einer Kunstform umgewandelt und sublimiert werden kann«. In Ermangelung von Kenntnis der Herkunft (a), (b) damit einhergehender Kampffähigkeit und (c) künstlerischem Aspekt ist diese Umwandlung höchst unwahrscheinlich.
Werden sich die Kampfkünste verändern?
Die Kampfkünste werden sich verändern müssen, um sich den vorherrschenden Rahmenbedingungen anzupassen. Wird diesen Anforderungen nicht nachgekommen, besteht also nicht die notwendige Flexibilität, drohen die Kampfkünste aus der Wahrnehmung zu verschwinden. Wie der Wandel aussehen wird, ist allerdings offen. In der Vergangenheit waren die Triebkräfte für den Wandel meist politischer Natur, aber die Kampfkünste der Gegenwart müssen Strategien finden, die der Globalisierung und dem Kommerz entsprechen. In diesem Sinne ist der Wandel von einer Kampfkunst zu einem Kampfsport ein Wettbewerb um weltweite Anerkennung, da diese oftmals direkt mit dem kommerziellen Erfolg verbunden ist. Auf dem Weg der Transformation können die Veränderungen radikal sein und werden auch den Charakter der Kampfkunst verändern, möglicherweise in einen Zustand, der aus traditioneller Sicht nicht mehr deutbar ist. Daher müssen die Schüler überlegen, was sie am meisten schätzen, und die Lehrenden (als Bewahrer des Wissens) sind aufgefordert, Entscheidungen darüber zu treffen, was bewahrt werden soll und warum.
Quellen
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2019http://www.espn.com/olympics/story/_/id/9650530/wrestling-gets-reinstated-2020-olympics
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Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller Aktiengesellschaft & Co. KG.
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https://play.google.com/store/books/details?id=dHvoM08EYccC
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Uozumi, T. 2010. “An Outline of Budō History.” In IBU Budo Series Volume 1: The History and Spirit of
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https://www.budo-u.ac.jp/laboratory/ibu/pdf/Capter_1_An_Outline_of_Budo_History.pdf
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Wikipedia contributors. (2019, January 29). 1896 Summer Olympics. Aufgerufen am 31. Januar 2019.
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https://www.bbc.com/sport/olympics/21427455
YoungIl, N. (2016). The Future of Asian Traditional Martial Arts. The International Journal of the History of
Sport, 33(9), 893–903.
Footnotes
- Diese Überschrift leitet sich aus dem Zitat des FILA-Präsidenten Lalović zu seinem Engagement beim IOC ab: »Der Verbleib im olympischen Programm ist entscheidend für das Überleben des Ringens.» (ESPN via Associated Press, 2013). ↩
- »Wrestling to be dropped from 2020 Olympic Games«. ↩
- »Fédération Internationale des Luttes Associées«, FILA, seit 2014 »United World Wrestling«, UWW. ↩
- Weniger attraktive Sportart, daher weniger Zuschauer im Stadion, daher geringerer Ticketverkauf! ↩