Kampfkunst als kulturelle Praxis: Der japanische Weg von Bujutsu zu Budo
In diesem Aufsatz wird die Entwicklung der Kampfkünste am Beispiel Japans untersucht. Dabei zeigt sich, wie historische, gesellschaftliche und religiöse Einflüsse ihren Wandel prägten. Ausgehend von der Legende um Bodhidharma wird der Ursprung körperlicher Übungen beleuchtet. Die japanischen Kampfkünste entwickelten sich von militärischer Technik zu spirituellem Weg. Im Budo stehen heute Selbstkultivierung, Disziplin und Etikette im Mittelpunkt. Der gesellschaftliche Umbruch vom Feudalismus zur Moderne veränderte auch die Kampfkunstpraxis. Mit der Meiji-Restauration und dem Bildungswesen gewann der sportliche Aspekt an Bedeutung. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Kampfkünste neu definiert und international verbreitet. Heute sind sie ein globales Kulturgut und Teil moderner Erziehung und Persönlichkeitsbildung. Der Aufsatz zeigt, dass Kampfkünste einem ständigen Wandel unterliegen – zwischen Tradition und Gegenwart.
Autor*in: Albrecht Urs-Vito
Jahr: 2025
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Jede Kampfkunst hat ihre identitätsstiftenden Eigenheiten, die sich aus der jeweiligen historischen Entwicklung ergeben und die den Anhängern zur Identifikation mit genau dieser Kampfkunst dienen. Die Kenntnis der Geschichte der Kampfkünste unter Berücksichtigung des jeweiligen gesellschaftlichen Kontexts gibt den Lernenden Impulse für eine neue Interpretation des Stils. Sie befähigt zugleich dazu, absolutistische Behauptungen über die »Einzigartigkeit« des Stils auf der Grundlage seiner Ursprünge zu reflektieren. Zu gewissen Zeitpunkten illustriert die Geschichte, dass Übergangsprozesse absolut notwendig waren, um das Verschwinden einer speziellen Kampfkunstform oder -stils zu verhindern. Die folgenden Absätze sollen einen kurzen Überblick über die grundlegende Entwicklung der Kampfkünste am Beispiel Japans geben.
Ursprung der Kampfkünste
Die historische Person des indischen buddhistischen Mönchs Bodhidharma ist im kollektiven Gedächtnis von Praktizierenden auf der ganzen Welt als Begründer der asiatischen Kampfkünste fest verankert. Allerdings gibt es keine stichhaltigen Beweise für Bodhidharmas Existenz oder seine Beiträge zu den asiatischen Kampfkünsten, wie es Wilson feststellt. Vielmehr wird angenommen, dass der mutmaßliche Begründer des Zen-Buddhismus im indischen Kanchipuram der Krieger- und Herrscherkaste angehörte. Er wurde in indischen Kampfstilen unterwiesen, begleitet von Gymnastik und Atemübungen, und studierte intensiv den Buddhismus. Historiker glauben, dass Bodhidharma auf seiner Mission, den Buddhismus zu lehren, in den Jahren zwischen 420 und 520 in China eintraf. Er erreichte schließlich den Shaolin-Tempel in der Provinz Henan. An diesem zentralen Ort übersetzten indische Buddhisten religiöse Texte ins Chinesische. Der Legende nach lehrte Bodhidharma in diesem Tempel. Seinen Mönchsbrüdern soll allerdings die Ausdauer zur Mediation gefehlt haben. Daher initiierte und entwickelte der Mönch ein körperliches Training, das auf seinen Erfahrungen als Krieger in seiner Jugend beruhte.
Die Transition der Kampfkünste am japanischen Beispiel
Die Legende von Bodhidharma illustriert den Übergang eines indischen Kampfstils zu einer körperlichen Ertüchtigungsmethode, die den Mönchen helfen sollte, die anspruchsvolle Meditation durchzuführen. Die von den chinesischen Kampfkünsten beeinflussten japanischen Varianten nutzten mutmaßlich diese Methoden zur Selbstverteidigung, zum Kampf und als integralen Bestandteil der Kriegsführung. Die Kampfkünste folgen alle dem Konzept, körperliche und geistige Techniken einzusetzen, um einen Gegner mit oder ohne den Einsatz von Waffen zu überwinden. Allerdings ändert sich die Einstellung zu diesem Konzept aufgrund des gesellschaftlichen Einflusses infolge von Krieg und Niederlage. Sie wechselt im Laufe der Jahrhunderte von einer aggressiven und tödlichen Kunst zu einer breiter akzeptierten körperlichen (und geistigen) Fitnessaktivität und natürlich zu einem wettbewerbsorientierten Sport. Um das am japanischen Beispiel nachvollziehbar zu machen, müssen zunächst einige Begriffe der japanischen Kampfkunst erläutert werden.
Budo
Im modernen Japan werden die Kampfkünste als Budo bezeichnet und umfassen die neun Disziplinen Judo, Kendo, Kyudo, Sumo, Karatedo, Aikido, Shorinji Kempo, Naginata und Jukendo. Alle Künste unterscheiden sich in ihrer Ausführung, z. B. in der Art der verwendeten Waffen, aber sie haben alle das Ziel der Charakterentwicklung durch das Befolgen des »Weges« (jpn. »Do«) und durch das »Studium der Vergangenheit« (jpn. »Keiko»). Integrierte formale Elemente wie Anstand und Etikette (jpn. »Reiho») sowie einzelne Bewegungsmuster (jpn. »Kata«) sind von großer Bedeutung, da sie dazu beitragen, »Wege des körperlichen Trainings als geistige Entwicklung zu kultivieren« (so schreibt es die »Budo-Charta« der japanischen Budo-Vereinigung). Die Vergangenheit erinnert uns regelmäßig daran, dass jede Ära ihre gesellschaftlichen Umwälzungen und einen Einfluss auf die japanischen Kampfkünste hatte, entweder auf ihre Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit und die Behörden oder auf die Praxis und Lehre der Kunst selbst.
Der Übergang von den traditionellen zu den modernen japanischen Kampfkünsten
Die japanischen Kampfkünste wandelten sich im Laufe in mehrfacher Hinsicht. Im Laufe der Zeit wurden die praktischen Aspekte der Kunstausübung als Notwendigkeit in Fragen von Leben und Tod (Selbstverteidigung und Kriegsführung) durchweg der Erlangung höherer geistiger Güter wie Bildung (Selbstentfaltung und Wettbewerb) untergeordnet. Über Jahrhunderte hinweg war das Gesellschaftssystem hauptsächlich von Gewalt geprägt, die von Kriegern und Kriegsherren ausging. Seit der Regierung professioneller Krieger des Kamakura Bakufu1 aus dem 12. Jahrhundert, über die Bürgerkriegszeit in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und die Vereinigungszeit im späten 16. Jahrhundert. Es bestand stets ein großer Bedarf an spezialisierten Kriegern, und schon bald organisierten sie sich in immer anspruchsvolleren Kampfschulen (jpn. »Ryuha«). Je nach Bedarf änderte sich die bevorzugte Art der Ausübung der Kampfkünste: vom berittenen Bogenschießen (jpn. »Kasagake«) im 12. Jahrhundert bis zu massenkampffähigen Techniken wie Speerführung (jpn. »Kyjutsu«), Nahkampf und Treffsicherheit (jpn. »Hojutsu«) und mit der Verfügbarkeit von Arkebusen (Vorderladerfeuerwaffe) ab dem 16. Jahrhundert. Mit der Einführung von Ryuha folgte die zeremonielle Etikette, und im 14. Jahrhundert wurden spirituelle Aspekte einbezogen, um über den spirituellen Weg (jpn. »Do«) zur Vollkommenheit zu gelangen, und es wurde zunehmend auf religiöse Werte aus Shinto, Buddhismus und Shugendo Bezug genommen.
Transition zu Zeiten von Frieden und Wohlstand
Die Einführung des Klassensystems von Samurai, Bauern, Handwerkern und Kaufleuten steigerte die soziale Stabilität in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts enorm. Durch Frieden und Stabilität stieg auch die landwirtschaftliche Produktivität. Damit verbesserten sich Infrastruktur und Wirtschaft, was wiederum eine kulturelle Blüte zur Folge hatte. Militärische Auseinandersetzungen waren sehr selten. Die Kampfkünste wurden zunehmend idealisiert und fanden viele Anhänger in den feudalen Domänen (jpn. »Han«), die unabhängig von der Zentralregierung zu agieren begannen. Die neuen Ryuha konzentrierten sich mehr auf die spirituellen Aspekte des Zen und der konfuzianischen Lehren als auf die Entwicklung von kampfrelevanten Techniken. Mit der wachsenden Wirtschaft und dem Aufkommen wohlhabender Bauern und Kaufleute kam es zu einer sozialen Spaltung, die zu Bauernaufständen führte und ein Bedürfnis nach Sicherheit entstehen ließ. Der Kriegs- und Militär-Aspekt (jpn. »Bujutsu«) der Kampfkünste gewann an Bedeutung, und anstelle von Kata2 -gebundenen Trainingsmethoden wurde das freie Sparring (jpn. »Randori«) intensiver praktiziert. Als im 19. Jahrhundert britische Seeleute in Japan landeten, kam es zu gewalttätigen Kampagnen. Um die Eindringlinge zu vertreiben, gründeten die Japaner die Kobusho-Militärakademie3 , deren Schwerpunkt auf der Lehre der militärischen Künste mit Schwerpunkt auf kämpferischen Anwendungen lag. Das Motto »Einheit von Geist, Schwert und Körper« ließ keinen Zweifel an dieser praktischen Anwendung und erklärt, warum der Kata-Unterricht fast vollständig verschwand. Mit der Meiji-Restauration in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts reagierte die Regierung auf die Krise des Verlusts der Unabhängigkeit Japans. Das alte Klassensystem wurde abgeschafft, um bedeutende soziale Veränderungen zu ermöglichen. Viele Ryuha wurden geschlossen, allerdings gab es ein zunehmendes öffentliches Interesse daran, die Kämpfe der ehemaligen, an den Ryuha beschäftigten Schwertkämpfer zu sehen. Sportveranstaltungen und Wettkämpfe wurden immer beliebter. Als hätte er die öffentliche Anerkennung gespürt, wandelte Jigoro Kano4 das Jujutsu in einen wettbewerbsfähigeren, aber weit weniger gefährlichen Stil um: Judo. Kano betonte von Anfang an den erzieherischen Aspekt des Judos als eine Kombination aus »körperlicher Erziehung«, »Wettkampf« und »persönlicher Kultivierung«. Kano sind noch mehrere Aufsätze in diesem Buch gewidmet.
Transition zu Zeiten des Nationalismus
Mit den Siegen der Japaner über die Chinesen und Russen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahm der Nationalismus zu und ein »Budo-Boom« wurde ausgelöst. Die Institutionalisierung der Kampfkünste erfolgte mit der Gründung der Dai-Nippon Butokai5 , die, unterstützt von der kaiserlichen Familie, bald über 100 000 Mitglieder zählte. Die Institution wurde gegründet, um Bujutsu-Lehrer auszubilden und Jujutsu und Kenjutsu zu standardisieren. Das Interesse am sportlichen Aspekt stieg, vergleichbar mit der Entwicklung der Kulturen in der westlichen Welt. Kano, inzwischen Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, ergriff die Gelegenheit, Budo in das Konzept der Olympischen Spiele zu integrieren. Bujutsu fand seinen Weg in das japanische Bildungssystem als Wahlfach für Mädchen und Jungen in der Mittelschule, das nun von Nishikubo Hiromichi in Judo umbenannt wurde. Mit der Zunahme internationaler Konflikte und aufgrund einer militaristischen Regierung wurde Budo bald zur Pflicht für alle Schüler. Um die Kriegsanstrengungen zu verstärken, wurde der Lehrplan um Schießtraining und Bajonettfechten erweitert.
Transition in der Nachkriegszeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Übergang zu der heute bekannten Interpretation des Budo eingeleitet. Die Betonung des sportlichen Aspekts des Budo war notwendig, um die Kampfkünste zu rehabilitieren, da sie als unvereinbar mit den neu etablierten demokratischen Werten angesehen wurden und ihre Ausübung verboten war. Es wurden Regeln aufgestellt, Zeitbegrenzungen und Wertungssysteme eingeführt. Die pädagogischen Bemühungen wurden verstärkt, da Budo nun von der Mittel- bis zur Oberstufe in den Lehrplan integriert wurde. Die japanische Wirtschaft verlagerte sich von der Landwirtschaft zur Schwerindustrie, was zu einer Landflucht führte. Das Wirtschaftswachstum führte zu Veränderungen des Lebensstils und zu einem verstärkten Interesse an sportlichen Aktivitäten. Das Selbstvertrauen und der Nationalstolz der Japaner steigerten das Interesse am Budo, was zu einer Akademisierung der Kampfkünste führte, die in der internationalen Budo-Universität und dem Budo-Forschungszentrum mündete. Eine fortschreitende Internationalisierung führte zur Gründung internationaler Budo-Verbände. Mit dem weltweiten Erfolg des Budo wurde ein »Internationales Seminar für Budokultur« gegründet, das seither von der Internationalen Budo-Universität (jpn. »Kokusai Budo Daigaku«) veranstaltet wird, um Fehlinterpretationen des Wesens des Budo zu vermeiden.
Schlussbemerkungen
Die Kampfkünste befinden sich in einem ständigen Wandel, da sie den Einflüssen gesellschaftlicher Veränderungen, Moden, wirtschaftlichem und ökologischem Einfluss ausgesetzt sind. Die japanische Entwicklung von der Vergangenheit bis zur Gegenwart spiegelt sich deutlich in ihren Kampfkünsten wider. Vor allem westliche Kampfkünstler beharren auf Tradition und konservativen Werten. Das ist paradox, da die Menschen, die diese Traditionen quasi geerbt haben, meist kein Interesse zeigen. Vor dem Hintergrund der japanischen Geschichte ist das nachvollziehbarer.
Quellen
Chamberlain, B. H. (1905). Things Japanese: being notes on various subjects connected with Japan for the
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Kreiner, J (Hrsg.) (2020). Geschichte Japans (8. Auflage). Reclam, Ditzingen.
Lind, W. (2001): Das Lexikon der Kampfkünste. Edition BSK, Sportverlag, Berlin 2001, ISBN
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Rana, R.K. (2017). Bodhidharma. In: Sarao, K.T.S., Long, J.D. (eds) Buddhism and Jainism. Encyclopedia
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https://www.budo-u.ac.jp/laboratory/ibu/pdf/Capter_1_An_Outline_of_Budo_History.pdf
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Wilson, W. E. (2010). Biography: Bodhidharma. In W. E. Wilson (Ed.), Essays on the Martial Arts.
Footnotes
- Es handelt sich hierbei um die feudale Militärregierung Japans während der Kamakura-Zeit von 1185 bis 1333. ↩
- Hierbei handelt es sich um eine stilisierte Form (kein körperlicher Kontakt) des Kampfes gegen einen oder mehrere imaginäre Gegner. Die Techniken und Abläufe sind bei der Ausübung festgelegt. ↩
- Die Militärakademie Kobusho (auch Rikugunsho) wurde in den letzten Jahrzehnten der Edo-Periode (1603 bis 1868) als Reaktion auf die Erfahrungen Japans mit den westlichen Militärmächten gegründet. Sie lehrte neben den traditionellen japanischen Kampfkünsten auch westliche Schlachtfeldtaktiken wie den Einsatz von Artillerie. Die Akademie befand sich in Misakicho, Tokio, und wurde bis 1866 betrieben. ↩
- Begründer des Judos. Er wird in den folgenden Aufsätzen noch ausführlicher charakterisiert, und seine Leistungen werden beschrieben und diskutiert. ↩
- Dieser großjapanische Kampfkünsteverband zur Förderung der Budo-Tugenden wurde 1895 von der japanischen Regierung gegründet und bestand bis 1946. ↩