Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus im Spiegel des Wing Chun

In diesem Aufsatz wird untersucht, inwieweit asiatische Philosophien wie Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus mit der Kampfkunst Wing Chun verknüpft sind. Entgegen gängiger Annahmen fehlen historische Belege für eine ursprüngliche Verbindung zwischen Philosophie und Kampfpraxis. Dennoch zeigen sich viele philosophische Konzepte als hilfreich für die Struktur, Ethik und Selbstwahrnehmung im Training. Wing Chun wird als funktionales, nahkampforientiertes System vorgestellt, das sich durch Effizienz und Prinzipien wie das Mittellinienkonzept auszeichnet. Angewandter Buddhismus zeigt sich etwa im disziplinierten, ego-befreiten Üben und der Fokussierung auf Gegenwärtigkeit. Taoistische Konzepte spiegeln sich in Weichheit, Anpassung, Fluss und Yin-Yang-Prinzipien im technischen Ablauf wider. Konfuzianismus prägt Hierarchie, Etikette und Lehrer-Schüler-Verhältnisse in der Wing Chun-Schule. Philosophie kann so rückwirkend Sinn stiften, Orientierung bieten und ethische Werte im Training stärken. Zugleich wird eingeräumt, dass manche philosophischen Konzepte in ihrer praktischen Anwendung widersprüchlich bleiben. Der Aufsatz schließt mit der Feststellung, dass Philosophie die Praxis bereichern kann – ohne sie jedoch zwingend zu begründen.

Philosophie der Kampfkünste

Autor*in: Albrecht Urs-Vito

DOI: 10.4119/unibi/3003647

Jahr: 2025

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Lizenz: CC BY-ND 4.0

Die Assoziation asiatischer Kampfkünste mit östlichen Philosophien erscheint so offensichtlich und plausibel, dass Praktiker sich selten die Frage nach der geschichtlichen Verbindung oder inhaltlicher Passung stellen. Tatsächlich gibt es keinen Beweis dafür, dass die referenzierten Philosophien im Zusammenhang mit den Anfängen der jeweiligen Kampfkunst stehen. Bowman beschreibt die gemeinhin vermuteten Assoziationen zwischen asiatischen Kampfkünsten und dem Chan1 -Buddhismus oder Taoismus als »tendenziell aus zweifelhaften Medienmythen stammend und oft wenig historisch fundiert«. Zweifellos lassen die Romantisierung und der starke Glaube der Praktizierenden an die ihren Stils innewohnende Philosophien auch nicht viel Raum für Skepsis. Natürlich klingt es überzeugend, dass Kung-Fu als Selbstverteidigung ein Produkt des Shaolin-Tempels und der Mönche ist, die den Chan-Buddhismus praktizieren. Allerdings handelt es sich hier um einen gut gepflegten Mythos. Insbesondere die historische Verbindung von Kung-Fu und Buddhismus ist bei weitem nicht so stark, wie gemeinhin von Kampfkünstlern und -schulen proklamiert wird. Aber ist die Übernahme der Philosophie und ihrer Umsetzung wirklich ein Problem, außer für die Authentizität? Sicherlich nicht. Wird den zugeschriebenen Philosophien gefolgt, hat das wohl kaum negative Auswirkungen, da sie oft gut zur Struktur der Kampfkunst passen. Sie sorgt für Identität, und die Philosophie unterstützt die bevorzugte Denkweise der Praktizierenden.

Philosophie der Kampfkünste

Nach einer Definition ist Philosophie2 »eine Theorie oder Haltung, die als Leitprinzip für das Verhalten dient«, und das ist im gegebenen Sinne absolut zutreffend. Es schadet nicht, die Kampfkünste im Nachhinein an philosophischen Grundsätzen auszurichten. Im Gegenteil. Die Philosophie trägt dazu bei, Techniken auf eine bestimmte Art und Weise (in sich stimmig) auszuführen. Die philosophischen Lehr- und Merksätze verleihen der Art und Weise zusätzlichen Sinn. In der Kampfkunst bildet die Philosophie eine heuristische Grundlage, die nicht nur die Techniken begründet, sondern auch die innere Haltung sowie gesellschaftlich anerkannte Werte wie Selbstbeherrschung, Frieden und Liebe vermittelt. Kampfkunst kann so als eine Art »Ethikschule« fungieren und eine narrative Strategie zur Bewältigung von Angst und Gewalt bieten3 . Bisher wurden nur positive Einflüsse erwähnt, doch es sollte nicht vergessen werden, dass es immer auch eine Kehrseite der Medaille gibt. Wie die Geschichte zeigt, können Philosophien zur Rechtfertigung von Handlungen herangezogen werden, die nicht auf die Verbesserung moralischer Werte im Sinne stark humanistischer Ziele abzielen. Beispiele hierfür reichen von nationalistischen Aussagen (Philosophien) zur Stärkung der nationalen Identität4 bis hin zur Aussage Werners als Teil der Propaganda des Dritten Reiches, dass Jiu-Jitsu und Judo zu »Wehrhaftigkeit, Kameradschaftlichkeit und unbestechlicher Entschlossenheit« erziehen. Je nach den Umständen werden jedoch Philosophien angewandt, die dem Zeitgeist entsprechen. Glücklicherweise sind die zuletzt beschriebenen Philosophien überholt und wurden ersetzt (siehe Vovinam und "Deutsches" Jiu-Jitsu).

Wing Chun

Dieser Abschnitt untersucht die auf Wing Chun angewendete Philosophie. Wing Chun und seine Prinzipien werden dem Leser kurz vorgestellt, gefolgt von einer Beschreibung der angewandten Philosophie, wie sie in der täglichen Trainingssituation praktiziert wird. Green beschreibt Wing Chun als ein Boxsystem, das hauptsächlich auf Schlagtechniken mit Händen (bevorzugt) und Füßen basiert. Die Kunst wird als äußere Kampfkunst eingestuft, wobei der Schwerpunkt eher auf muskulären und strukturellen Aspekten als auf dem »Qi« (innere Energie) liegt. Wing Chun ist für den Nahkampf (»Infight«) konzipiert und zeichnet sich durch ökonomische Bewegungen, stabile (ausgewogene) Stellungen und »defensive Praktikabilität« aus. Charakteristisch für den Kampf sind Kettenfaustschläge, gleitende Fußarbeit mit niedrigen Tritten und das Festhalten und Einklemmen (»Trapping«) von Gliedmaßen. Im Training werden Chi-Sao-Techniken (»klebrige Hände«) zur Verbesserung der Sensibilität und Anlernen des Muskelgedächtnisses geübt. Das Verfolgen des Mittellinienkonzepts ist von größter Bedeutung für das Kampfsystem. Ziel ist es, die gegnerische Mittellinie (virtuelle Linie durch die vertikale Körpermitte) anzugreifen oder die eigene zu verteidigen. Aus ökonomischen Gründen vermeidet das Wing Chun-System Techniken, die Kraft mit Kraft beantworten. Stattdessen wird die eintreffende Kraft durch eigene Schläge abgelenkt, die gleichzeitig dem Angriff dienen und die Technik des Gegners blockieren. Die fließenden Konnotationen der Techniken erhöhen die Geschwindigkeit, die Flexibilität und die Chancen, die sechs Tore zu durchdringen, die durch die Mittellinie definiert und horizontal durch den Kopf-, Brust- und Leistenbereich für beide Seiten abgegrenzt sind.

»Die drei Wege«

Die drei großen philosophischen Theorien - der Buddhismus, der Taoismus und der Konfuzianismus - werden hier im Kontext des Wing Chun diskutiert5. Sie zählen zu den wichtigsten philosophischen Lehren, die sowohl in populären Darstellungen asiatischer Kultur als auch im Zusammenhang mit den Kampfkünsten thematisiert werden. Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus sind als »Drei Wege« bekannt und dienen nach Zhang und Veenhoven als Schlüsselphilosophien der chinesischen Kultur, die weithin akzeptiert sind6. Anschließend werden Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus sehr kurz beschrieben, auf die wichtigsten Konzepte konzentriert. Es werden in diesem Aufsatz keine Vermutungen darüber angestellt, ob diese philosophischen Konzepte eine entscheidende Rolle im Gründungsprozess des Wing Chun gespielt haben. Allerdings werden einige gut passende und anwendbare Konzepte beschrieben und interpretiert.

Der Buddhismus

Der mythische, in Indien geborene Siddhartha Gautama (später »Buddha« genannt, 562 v. Chr. bis 483 v. Chr.), gilt als Begründer der buddhistischen Philosophie. In dieser Philosophie leidet nach Buckingham der Mensch unter den Frustrationen seiner Wünsche und Erwartungen. Die Überwindung des eigenen Egos (Egoismus und Selbstbezogenheit), als wichtigster Faktor für Verlangen und Ehrgeiz, wird weiteres Leiden verhindern. Das Gefühl der Zufriedenheit als Essenz des Glücks (»Erleuchtung«) kann nicht durch die Befriedigung »sinnlicher Begierden« und »weltlicher Ambitionen« erreicht werden. Die Lehren der »vier edlen Wahrheiten7« erklären die universelle Natur des Leidens, das durch das Verlangen verursacht wird und durch die Beseitigung des Verlangens gemäß dem »achtfachen Weg« vermieden werden soll. Letzteres kann als ein ethischer Kodex interpretiert werden, der die Tugenden des rechten Handelns, der rechten Absicht, des rechten Lebensunterhalts, der rechten Anstrengung, der rechten Konzentration, der rechten Rede, der rechten Verstehens und der rechten Achtsamkeit umfasst.

Taoismus

Im 6. Jahrhundert vor Christus vollzog sich in China ein Übergang zu instabilen Zeiten mit fortschreitendem Zerfall. Dieser Wandel machte neue Strategien für eine effiziente Verwaltung erforderlich. Die chinesische Philosophie blühte in dieser Zeit auf und war stark auf praktische Politik, Ethik und Moral ausgerichtet. Es entstand die Idee des Taoismus, der sich aus dem Traktat Tao te King entwickelt haben könnte, das der (mythischen Person) Laozu zugeschrieben wird. In diesem Text wird die Idee vorgestellt, ein tugendhaftes Leben zu führen, indem man dem Weg des »Tao« folgt. Das Konzept des Tao steht in engem Zusammenhang mit der sich ständig verändernden, zyklischen und vereinheitlichenden Perspektive der chinesischen Philosophie. Abgesehen von der Unterscheidung zwischen gegensätzlichen Stadien, z. B. zwischen den beiden Jahreszeiten Winter und Sommer, werden in dieser Philosophie die Jahreszeiten als Übergang von einer zur nächsten betrachtet (Frühling über Winter und Herbst über Sommer). Und anstatt einen Zustand als solitär und isoliert zu betrachten, beschreibt die Philosophie die Stadien als komplementär. Nur in einer allumfassenden Betrachtung und im Lichte ihrer Interdependenzen kann eine Stufe als Ganzes verstanden werden. Eine Interpretationsmöglichkeit des Tao ist der Übergang, der zu verschiedenen Erscheinungsformen führt, die die Welt aufbauen und für das harmonische Gleichgewicht verantwortlich sind. Die Tugenden des Lebens bestehen darin, im aktuellen Moment im Einklang mit dem Tao zu handeln und dem natürlichen Fluss der Dinge zu folgen, »ohne Verlangen, Ehrgeiz oder Rückgriff auf soziale Konventionen« - bekannte menschliche Eigenschaften, die dieses Konzept stören.

Konfuzianismus

In einer Zeit des Übergangs in China von der stabilen Frühlings- und Herbstperiode zur Periode der Streitenden Staaten wurde 551 v. Chr. der Philosoph Konfuzius geboren. Buddhismus und Taoismus wurden auf breiter Basis praktiziert und ersetzten die traditionellen Glaubensvorstellungen. Konfuzius suchte in dieser sich wandelnden Welt nach Konstanten, die die Herrschenden auf moralische Werte verpflichten würden. Seine Ideale beruhen auf dem Glauben, dass nicht Vererbung, sondern Verdienst die Herrschaft rechtfertigt. Im konfuzianischen Denken hat die herrschende Klasse die Pflicht, »mit Tugend und Wohlwollen zu handeln, um eine gerechte und stabile Gesellschaft zu erreichen« (Buckingham). Konfuzius berühmte Abhandlung, die Analekten, führte ein umfassendes ethisches System ein, das sich in erster Linie an die herrschende Klasse richtet. Die Junzi (chn. »Herren«) entsprachen dem Weg der Tugend, der die Werte der Loyalität, der kindlichen Pietät, des rituellen Eigentums und der Gegenseitigkeit respektierte und anwendete. Auch Tugend konnte von jedem kultiviert werden, und die Hierarchie wurde von Konfuzius nicht infrage gestellt. Das Gegenteil war der Fall. Konfuzius legte seiner Philosophie ein sehr konservatives Verständnis von Beziehungen zugrunde (»die fünf konstanten Beziehungen«), wobei eine Loyalität von unten nach oben durch Wohlwollen von oben nach unten belohnt wurde. Ritualisierung wurde als Instrument zur Stärkung und zum Ausdruck von Loyalität angesehen, umfasste »jeden Aspekt des zeitgenössischen chinesischen Lebens« und musste aufrichtig praktiziert werden. Reziprozität bedeutete Selbstreflexion des eigenen Handelns gegenüber den Mitmenschen. Die Maxime von Konfuzius »Was du nicht für dich selbst willst, das füg auch keinem anderen zu« führt zu einem bescheidenen und demütigen Verhalten im Umgang mit anderen und vor allem mit sich selbst.

Beispiele für angewandte Philosophien im Wing Chun

Angewandter Buddhismus

Aspekte des Buddhismus, wie Respekt vor allem Lebendigen, Bescheidenheit und Disziplin, lassen sich auf die Kampfkunst anwenden. Geduldiges, konstantes und anstrengendes Training mit Fokus und Aufmerksamkeit stehen im Vordergrund und verkörpern die buddhistischen Lehren. Die ständige innere Reflexion kann als ein ewiger Kampf mit sich selbst verstanden werden8. Die innere Haltung tritt gegenüber dem Ergebnis des Kampfes in den Hintergrund. Im Buddhismus geht es um die Realität, um das Leben im Augenblick und nicht darum, einer Illusion zu folgen. Aus persönlicher Erfahrung verzichtet das Wing Chun im Training und im Kampf auf Effekthascherei und auf eine ansprechende Ästhetik. Die technische Funktion bestimmt die Ästhetik (Form). Ziel des Trainings ist es, die eigenen Fähigkeiten zu verbessern und sich nicht auf Tricks zu verlassen, die die Fähigkeiten des Partners ungünstiger erscheinen lassen (als sie tatsächlich sind). Das Ego spielt hier eine wichtige Rolle. Dessen Überwindung führt in der Regel zu einem größeren Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und zum Respekt gegenüber den Trainingspartnern, die sich auf einen vertrauenswürdigen, fairen Charakter verlassen können.

Angewandter Taoismus

Der Taoismus spielt eine vielfältige Rolle, wenn es um Trainings- und Kampfprinzipien geht: Er beinhaltet Weichheit gepaart mit Härte, wenn nötig, fließende Bewegungsabläufe sowie die Ökonomie der Bewegung und das Prinzip des kontextabhängigen, intuitiven Handelns. Der Taoismus versteht Harmonie als ausgewogene Symbiose (und Handlung) zwischen Mensch und Natur im Sinne des Tao9. Entscheidend für das Leben ist der fließende Wechsel der Zustände. Der Wandel bzw. die Gesetze des Wandels lassen sich leicht mit dem Yin- und Yang-Prinzip erklären. Yin und Yang beschreiben zwei diametral entgegengesetzte Prinzipien, die jedoch als Teil eines Ganzen zu verstehen sind. Während Yang zum Beispiel für »Härte«, »Männlichkeit« und »Aktivität« steht, repräsentiert Yin »Weichheit«, »Weiblichkeit« und »Passivität«. Während eines Wandels zum Beispiel steigt Yang stetig bis zu seinem Maximum an, wobei Yin gebildet wird und zunimmt, während Yang gleichzeitig abnimmt. Im Kampf bilden die Kontrahenten ein vollständiges Ganzes. Die Gegner führen Angriffe und Verteidigungen mit unterschiedlichen Anteilen von Yang und Yin aus. Nach dem Harmonieglauben sollten härtere (Yang-) Techniken mit Weichheit (Yin) gekontert werden. Eine Störung des Gleichgewichts führt zur Überlegenheit einer Partei. Kraft mit »Kraft« zu kontern ist der falsche Ansatz, vielmehr sollte die Kraft des Gegners durch die eigene Sanftheit absorbiert und reflektiert werden. Eine ständige gegenseitige Anpassung zwischen den Kontrahenten ist erforderlich, um das Gleichgewicht zu erhalten. Eine Verletzung führt zu einer Störung der Wing Chun-Prinzipien von Ökonomie und Effizienz und früher oder später unweigerlich zu einem Zusammenbruch. Das sture Festhalten an bestimmten Techniken widerspricht der Wue-Wei-Idee des »Nicht-Handelns«. Die Techniken sollen kontextabhängig, ohne Anstrengung, Mühe und Kraftaufwand und damit im Einklang mit dem Tao ausgeführt werden10. Sensibilitätstraining im Sinne von Chi Sao führt durch langjähriges Üben zu einer entsprechenden Fixierung der Techniken auf die entsprechenden Reize im Muskelgedächtnis, sodass sich die Harmonie im Laufe des Trainings einstellt. Grundsätzlich dominiert Yin über Yang: Weichheit ist nach taoistischem Verständnis der Härte überlegen. Symbolisch wird dafür das Wasser verwendet. Aufgrund seiner Weichheit kann sich Wasser an alles anpassen, indem es Hindernisse umströmt. Es ist praktisch nicht greifbar und hat dennoch eine zerstörerische Kraft, wie das bekannte ständig tropfende Wasser, das einen Stein durchdringen kann, oder ein Tsunami. Die taoistische Philosophie ist im Training zur Vorbereitung auf den Kampf weit verbreitet. Die Wahrnehmung beruht jedoch weniger auf der mündlichen Lehre als auf dem Handeln. Die ständige Anspannung der Muskulatur führt zu Schmerzen und Ermüdung, sodass der Schüler selbst Störungen erkennt und sie im taoistischen Sinne abstellt.

Angewandter Konfuzianismus

Der Konfuzianismus kann als Metapher für und Bewahrer der formalen Tradition des Wing Chun verstanden werden. Die Lehrer-Schüler-Beziehung und die Etikette sind damit verbunden. Konfuzianische Einflüsse zeigen sich deutlich in der hierarchischen, familienähnlichen Struktur innerhalb der Wing Chun-Schulen. Die Bezeichnungen der Trainingspartner hat einen engen Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Aufnahme in die Wing Chun-Familie. Der Schüler (chn.»To-dai«) nimmt gegenüber seinen Mitschülern die Rolle des jüngeren Bruders ein. Entsprechend der hierarchischen Struktur verhält er sich respektvoll gegenüber den älteren »Geschwistern«. Die älteren Schüler (chn. »Si-hing«, »älterer Kampfkunstbruder«) sind mild und wohlwollend gegenüber den jüngeren (»Si-dai«). Der Meister (chn. »Sifu«, »väterlicher Kampfkunstlehrer«) hat die höchste Position, es sei denn, sein Lehrer (chn. »Si-gung«, »großväterlicher Kampfkunstlehrer«) ist anwesend. Der Respekt äußert sich auf vielfältige Weise. Die Begrüßung erfolgt traditionell mit einem Handgruß und einer Verbeugung, zuerst vor dem Meister, dann vor den älteren Schülern, dann vor den jüngeren, um so Dankbarkeit für die Unterweisung und Respekt für den Status in der Hierarchie auszudrücken. Auch die höheren Ränge verbeugen sich, um ihren Respekt und ihre Wertschätzung für ihr Gegenüber auszudrücken. Während der Ausbildung selbst wird von den jüngeren Schülern erwartet, dass sie sich in Geduld üben. Je nach Position im hierarchischen System können Fragen an den Meister gerichtet werden. Jüngere Schüler sollten in erster Linie dem Lehrer vertrauen und sich ihm unterordnen. Wenn ein Schüler zu viele Fragen stellt, wird er ignoriert. Mit zunehmender Qualifikation (und Aufstieg in der hierarchischen Ordnung) lockert sich das Verhältnis, bleibt aber grundsätzlich distanziert und respektvoll. Im Unterricht unterrichtet der Meister die Schüler je nach ihrem Leistungsstand. Es liegt in seinem Ermessen, ob und welche neuen Techniken unterrichtet werden. Kritik am Meister ist für ihn ein Affront. Die Gemeinschaft achtet darauf, dass der Meister sein Gesicht nicht verliert. Dies steht auch für die Loyalität gegenüber dem Meister, die in jedem Fall eine wichtige Rolle spielt. Schülerinnen erhalten den gleichen Respekt wie Schüler. Der Legende nach waren auch Frauen Gründerinnen des Systems, was mit den ursprünglichen konfuzianischen Lehren kaum vereinbar ist, aber eine (glückliche) Abweichung darstellt. In Bezug auf das Lehren und Lernen lässt sich feststellen, dass es dem konfuzianischen Gedankengut eher entspräche, wenn die Ausbildung einfach als Formung des »edlen« Charakters durch Körper und Geist verstanden würde (siehe Dolin). Nach Konfuzius sollte das Training in der Praxis angewendet werden. Um das Gelernte nicht zu vergessen und besser zu verankern, ist die Anwendung des Gelernten wichtig. Dies geschieht vor allem in Form von Partnerübungen, die Respekt vor der Gesundheit des anderen und Vertrauen erfordern.

Schlussbemerkungen

In diesem Aufsatz wurden die Diskrepanzen der einzelnen Philosophien und ihre Anwendung auf die Kampfkünste nur ansatzweise aufgezeigt. So wurde z. B. nicht versucht, die Vereinbarkeit der pazifistischen Ideen des Buddhismus mit der Anwendung von Gewalt in den Kampfkünsten zu diskutieren oder die inhärenten Widersprüche der vorgestellten Philosophien untereinander und in Bezug auf die Kampfkünste aufzulösen. Eine solche Analyse müsste in einer weitaus gründlicheren und umfassenderen Weise durchgeführt werden und sollte daher an anderer Stelle geschehen. Vielmehr hat dieser Aufsatz eine wohlwollende Auswahl philosophischer Ideen und Konzepte vorgenommen und sie auf Wing Chun angewandt. Es sollte so gezeigt werden, dass dies einerseits möglich ist (und in der Praxis mehr oder weniger täglich praktiziert wird), und dass es andererseits positive praktische Auswirkungen auf die Ausübung der Kampfkünste hat, die das Verständnis und die Umsetzung fördern. Für diejenigen, die dafür empfänglich sind, kann dies auch einen positiven Beitrag zur ethisch-moralischen Erziehung leisten.

Quellen

Bowman, P. (2019). Mindfulness and Madness in Martial Arts Philosophy. Journal of Martial Arts Research,
2(1), 2–17.

Buckingham, W., King, P. J., Burnham, D., Weeks, M., Hill, C., Marenbon, J., … Tomley. (2011). The
Philosophy Book (UK ed.). London: Dorling Kindersley Limited.

Coesfeld, M. (2019). Kampfsport im Dritten Reich. Journal of Martial Arts Research, 2(4), 1–10.

Dolin, A. (1999). Kempo. Die Kunst des Kampfes. Geschichte und Techniken der ostasiatischen
Kampfsportarten. Frechen: Komet-Verlag.

Green, T. A. (2001). Political Conflict and the Martial Arts. In T. A. Green (Ed.), Martial Arts of the World: An
Encyclopedia. Santa Barbara, Denver, Oxford: ABC-CLIO.

Werner, W. (1939). Die Waffe jiu-Jitsu und Judo-Kampfsport. Dresden: Rudolph’sche Verlagsbuchandlung.

Wetzler, S. (2018). Martial Arts as a Coping Strategy for Violence. In P. Bowman (Ed.), The Martial Arts
Studies Reader. London, New York: Rowman & Littlefield International.

Zhang, G., & Veenhoven, R. (2008). Ancient Chinese philosophical advice: can it help us find happiness
today? Journal of Happiness Studies, 9(3), 425–443.

Footnotes

  1. Zen-Buddhismus in Japan.
  2. Nicht die »Webster«-Definition, sondern die von Google: Link: https://www.google.com/search?q=define%3A+philosophy&oq=define%3A+philosophy&aqs=chrome..69i57j69i58.12341j0j7&sourceid=chrome&ie=UTF-8
  3. Siehe hierzu ausführlich Sixt Wetzler.
  4. Der verwendete Slogan lautete: »Kein Vovinam-Schüler, kein vietnamesischer Patriot«.
  5. Unabhängig vom Stil werden Aspekte behandelt, die für fast alle asiatischen Kampfkünste erörtert werden können.
  6. Ich betrachte sie getrennt und nicht im Sinne des Neokonfuzianismus, der ab dem 9. Jahrhundert (Tang-Dynastie) zu einem kooperativeren Umgang mit den einzelnen Lehren führte.
  7. Nämlich: »Dukkha«, die Wahrheit des Leidens; »Samudaya«, die Wahrheit über den Ursprung des Leidens; »Nirodha«, die Wahrheit über die Beendigung des Leidens, »Magga«, die Wahrheit über den Weg zur Beendigung des Leidens
  8. Diese Haltung wird vor allem in den japanischen Kampfkunststilen deutlich. Dies ist auch auf die Einbeziehung der buddhistischen Lehren in das Bushido (jpn. für »Weg des Kriegers«) zurückzuführen, das von der herrschenden Kriegerkaste der Samurai praktiziert wurde. Die verächtliche Haltung gegenüber dem Leben bedeutete auch Gelassenheit gegenüber dem Tod. Die Beherrschung von Zen und Kampfkunst galt als Ideal.
  9. Der Konfuzianismus zielt auf eine Harmonisierung auf gesellschaftlicher Ebene ab, die im folgenden Abschnitt erörtert wird.
  10. Knappe, prägnante und zugängliche Techniken entsprechen auch dem Konzept der Wirtschaftlichkeit und Effizienz.